Angenommen, in Deutschland würden nach und nach alle Kläranlagen ausfallen. Aus den Hähnen eines jeden Bürgers tropfte immer häufiger statt gefiltertem Trinkwasser eine ziemlich infektiöse Brühe. Wie würde die Öffentlichkeit reagieren, wenn Experten empfehlen würden, dass die Instandhaltung der nationalen Wasserversorgung nunmehr Aufgabe eines jeden einzelnen Bürgers sei und er deshalb aus eigenem Interesse lernen sollte, wie man sich mit Teefiltern und Klebeband daheim einen eigenen Bürger-Wasserfilter basteln kann? Man würde aus reiner Menschenliebe einem solchem Experten raten, sich für den Rest seiner Lebenszeit doch lieber dem Schweigegelübde unterliegenden Karthäuser-Orden anzuschließen und hoffen, dass man ihm dort Schutz gewährt vor den vermutlich ziemlich lautstarken Einwänden erzürnter Bürger.

Vergleichbares muss Philipp Hübl nicht befürchten. Obwohl der an der Uni Stuttgart lehrende Philosoph kürzlich im Grunde exakt das gesagt hat, was unserem namenlosen Experten im Kläranlagenbeispiel ins Schweigeexil treiben könnte. Das Neue Deutschland zitiert Hübl mit folgender Bemerkung:

Fake News werden sich nach Auffassung des Philosophen Philipp Hübl künftig noch stärker verbreiten als bislang. „Es ist ziemlich klar, dass das zunehmen wird«, sagte Hübl am Sonntag auf der Leipziger Buchmesse. Grund sei, dass die Wächterfunktion der klassischen Medien über den Nachrichtenstrom durch die sozialen Medien weggefallen sei. Nun sei jeder Einzelne gefordert, sich zu schützen und für das Thema zu sensibilisieren, betonte Hübl: Jeder sei selbst »verantwortlich für das, was man glaubt.“

Übertragen auf das eingangs skizzierte Kläranlagenmotiv müsste Hübl also empfehlen: Da die Reinigungsfunktion der klassischen Kläranlagen über den Wasserstrom weggefallen sei, sei nun jeder einzelne gefordert, sich zu schützen vor der Brühe. Schließlich sei jeder selbst verantwortlich für das, was man trinkt. Hübl ist nicht der Einzige, der ein solchen Umgang mit diesem Problem für sinnvoll hält. In der ZEIT formulierte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen unlängst, angesichts der Bedrohung der Demokratie durch Fake-News und Propaganda müssten alle Bürger zu Journalisten werden.

Aufgebrezelte Hilflosigkeit trifft komplexe Herausforderung in modernen Demokratien

Pörksen nennt das „die Utopie der redaktionellen Gesellschaft“. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Vermittlung professioneller journalistischer Standards Gegenstand der Allgemeinbildung in Schulen und Universitäten wird, weil man sich ansonsten nicht mehr immunisieren könne gegen die negativen Effekte der neuen Medienwelt. Um wieder in unserem eingangs zitierten Bild zu bleiben: Das wäre so, als würden wir dem Phänomen dysfunktionaler Kläranlagen mit der flächendeckenden Schulung von Bürgerklempnern begegnen.

Bemerkenswert an dieser Argumentationslogik ist vor allem die zudem noch zur Utopie aufgebrezelte Hilflosigkeit, mit der hier versucht wird, eine komplexe Herausforderung in modernen Demokratien angemessen zu erfassen. Aber sie ist bezeichnend für das Niveau, auf dem wir hierzulande über den Strukturwandel der Öffentlichkeit und dessen Konsequenzen für alle Bürger debattieren. Nachrichtenströme, so viel Übereinstimmung mit Hübl und Pörksen ist immerhin, bedürfen in der Tat der Wächterfunktion. Denn das wussten schon die Pioniere der flächendeckenden Einführung der geordneten Abwasserentsorgung im 19. Jahrhundert: Eine solche Infrastruktur ist ein unverzichtbares öffentliches Gut, mithin eine zentrale Voraussetzung für humane Lebensverhältnisse in einem Gemeinwesen.

Zerfall der Gesellschaft verhindern

Wenn diese Strukturen und die sie stützenden und schützenden Institutionen erodieren, sind Kollateralschäden für jeden Bürger früher oder später die unvermeidliche Folge. Oder wie es der Bundespräsident Walter Steinmeier kürzlich in einer bemerkenswerten Rede formulierte: Wen „die epidemische Verbreitung von Desinformation im Internet, die gewaltige Kraft der digitalen Medien, aber auch die Vielfalt der Angriffe auf den öffentlichen Vernunftgebrauch“ mit Sorge erfülle, der müsse sich für ein funktionierendes Mediensystem stark machen. Denn Medien tragen dazu bei, „den Zerfall der Gesellschaft zu verhindern“, indem sie „geprüfte Informationen bereitstellen, Missstände aufdecken, Lügen entlarven und politische Prozesse nachvollziehbar machen“.

Die Sorge des Bundepräsidenten gründet in der richtigen Beobachtung, dass wir zurzeit in allen demokratischen Staaten den Zerfall eines öffentlichen Guts beobachten können – denn nichts anderes ist das, was dem zu Grunde liegt, was wir unter wechselnden Stichworten wie „Medienkrise“ oder „Fake-News“ diskutieren. Zerfall bedeutet, dass die bisherige Medienlandschaft in ihrer Fähigkeit nachlässt, jene Trübstoffe aus den öffentlichen Kommunikationsräumen zu filtern, die diese vermüllen und so die für die funktionierende Meinungsbildung in einer Demokratie so elementare Distribution geprüfter Wissensbestände beeinträchtigen. Und zugleich verschärft sich dieser Erosionsprozess noch dadurch, dass mit den Technologiegiganten der sozialen Medien eine weitgehend unregulierte Parallelwelt entstanden ist, deren Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung kaum zu unterschätzen ist.

Die Herausforderung ist also ziemlich deutlich zu benennen:

„Die Jahrhundertaufgabe hingegen bestünde darin, einen Mechanismus zu entwerfen, der den Journalismus eng mit (neuen) Einnahmequellen verkoppelt, deren Funktionsfähigkeit und Ergiebigkeit direkt vom journalistischen Handwerk abhängt.“

Wie man die Jahrhundertaufgabe bewältigt, wie also das künftige Ökosystem der öffentlichen Kläranlagen für Argumente aussehen wird, ist derzeit völlig offen.

Doch eines immerhin dürfte klar sein: Die Sicherstellung öffentlicher Güter kann nicht, anders als Hübl argumentiert und Pörksen mindestens nahelegt, primär die Aufgabe des einzelnen Bürgers sein. Im Gegenteil: Wenn ein öffentliches Gut durch disruptive Prozesse grundlegend erschüttert wird (zur aktuellen Ökonomie des Mediensystems und zu den Gründen für die nachlassende Wächterfunktion werden wir auf Meta demnächst noch einen eigenen Text veröffentlichen), ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, darauf eine tragfähige Antwort zu finden.

Problem noch nicht mal diskutiert

Das momentane Problem ist aber weniger, dass wir die tragfähige Antwort nicht kennen. Unser Problem ist, dass wir noch nicht einmal damit begonnen haben, über das Problem in angemessener Form zu diskutieren. Die Utopie des selbstverantwortlichen Bürgerjournalisten ist kein Beitrag dazu. Sinnvoller ist es, über systemische Lösungen nachzudenken, die sicher stellen, dass wir auch in Zukunft über professionelle Verfahren der evidenzbasierten Nachrichtenproduktion verfügen.

Für Steinmeier sind dafür vor allem zwei Systeme zentral: Wissenschaft und Medien (ab Minute 5:20 in der verlinkten Rede). Mindestens für die Profession der Wissenschaftsjournalisten, die ja zu Hause sind an den Reibungszonen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, könnte das ein Grund sein, den trüben Verhältnissen zum Trotz darauf zu hoffen, dass in unserer Gesellschaft auf die Jahrhundertaufgabe in naher Zukunft klügere Antworten formuliert werden.

Autor: Franco Zotta, WPK-Geschäftsführer