Früher hatten Journalisten die Macht zu entscheiden, was wichtig ist, weil ihre Verleger Druckereien besaßen. Heute brauchen sie ein Mandat der Öffentlichkeit, um weiter Orientierung geben zu können.
Von Alexander Mäder

Journalisten haben ihre Rolle als Gatekeeper verloren: Sie entscheiden nicht mehr darüber, welche Nachrichten und Analysen wichtig genug sind, dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Diese Aufgabe haben zu einem guten Teil die Algorithmen von Google und Facebook übernommen. Sie orientieren sich allerdings nicht am gesellschaftlichen Interesse, sondern an den Präferenzen der Nutzer und der Menschen in ihrem Umfeld. Zudem ist es heute einfacher als noch vor 20 Jahren, auf einem eigenen Kanal ein großes Publikum zu erreichen. Daher gelingt es gelegentlich, die Medien zu umgehen.

Diese Demokratisierung des öffentlichen Diskurses ist eine Errungenschaft, die wir nicht aufgeben sollten. Doch sie führt zu einer Flut an Beiträgen, die man als Einzelner kaum überblickt. Ich glaube daher, dass Journalisten weiter Gatekeeper sein sollten, um die wichtigen Nachrichten und Analysen hervorzuheben. Diesen Punkt hat kürzlich Franco Zotta stark gemacht: „Nachrichtenströme bedürfen der Wächterfunktion.“

Früher konnten Journalisten hoffen, dass ein Artikel, den sie prominent in der Zeitung platzieren, auch gelesen wird. Heute bekommen sie immer wieder den frustrierenden Beleg, dass ihr Onlinebeitrag nicht zum Publikum durchgedrungen ist. Das sollten Journalisten als Aufforderung verstehen, ihre Arbeit zu überdenken: Setzen wir wirklich auf die wichtigen Themen? Versuchen wir womöglich, unser Publikum zu bevormunden? Doch diese Selbstkritik spricht nicht grundsätzlich gegen das Gatekeeping, das weiterhin einen Wert hat: Journalisten können die öffentliche Debatte bereichern, weil sie die Dinge aus einer anderen Perspektive beobachten und – möglichst unabhängig von Politik, Wirtschaft und Interessensverbänden –  Orientierung geben.

Einige Kollegen halten diese Position für überholt und richten sich ganz nach dem Interesse des Publikums: Sie verfolgen live, was die Öffentlichkeit bewegt, und reiten auf diesen Wellen der Erregung. Das hat seine Vorteile: Die Kollegen lernen ihr Publikum besser kennen, schreiben seltener am Bedarf vorbei und können daher darauf hoffen, ihre Arbeit langfristig zu finanzieren (vermutlich eher durch Werbung als durch den Verkauf einzelner Beiträge, denn als Nutzer kann man damit rechnen, die Information woanders kostenlos zu bekommen). Sie entlarven in ihrer Arbeit falsche Behauptungen und ordnen die Nachrichten ein.

Journalisten brauchen neues Mandat

Sie klären also, was richtig ist, überlassen es aber anderen zu entscheiden, was wichtig ist. Damit erfüllen sie eine bedeutende öffentliche Aufgabe, denn man sollte es nicht den Mediennutzern aufbürden, die Nachrichten zu prüfen. Sie sollten zwar die Fähigkeit dazu haben, aber um alles zu hinterfragen, fehlt im Alltag schlicht die Zeit. Franco Zotta verstärkt diesen Punkt noch, indem er geprüfte Nachrichten als öffentliches Gut einstuft: „Die Sicherstellung öffentlicher Güter kann nicht primär Aufgabe des einzelnen Bürgers sein“, schreibt er.

Mir ist dieser neue Journalismus trotz seiner Vorzüge zu dürftig, denn der öffentlichen Debatte gehen wichtige Themen verloren, wenn Journalisten ihren Einfluss auf die Themenauswahl aufgeben. Aus meiner Sicht sollten sie die Öffentlichkeit auch mit Nachrichten und Analysen konfrontieren, die sie nicht erwartet hat. Allerdings brauchen Journalisten für diese Aufgabe ein neues Mandat. Früher hatten sie die Macht zu entscheiden, was wichtig ist, weil ihre Verleger Druckereien besaßen. Heute müssen sie das Vertrauen der Öffentlichkeit gewinnen, um ihre Aufgaben voll ausüben zu können.

Der klassische Weg, einer Redaktion das Vertrauen auszusprechen, ist ein Abo abzuschließen. (Jay Rosen hat in seinem Blog einige erprobte Wege beschrieben, auf denen Redaktionen Vertrauen aufbauen können.) Damit gibt man Journalisten den widerruflichen Auftrag, die wichtigsten Themen aus der Nachrichtenflut herauszufischen. Doch ich habe den Eindruck, dass die Bereitschaft zu solchen langfristigen Verpflichtungen sinkt, weil man heute die Möglichkeit hat, sich seine Nachrichtendiät über kuratierte Dienste und News-Aggregatoren individuell zusammenzustellen. Statt ein Monats- oder Jahresabo abzuschließen, kann man aber auch Journalisten mit konkreten Recherchen beauftragen – und Journalisten können ihrem Publikum entsprechende Vorschläge machen.

Journalismus mit Crowdfunding und Crowdsourcing

Ich stelle mir das Grundprinzip so vor: Journalisten arbeiten heraus, welche Themen sie recherchieren wollen, wie sie vorgehen werden und welche Fähigkeiten sie dazu mitbringen. Interessierte Leser zahlen im Voraus für diese Arbeit, und wenn genügend Geld zusammenkommt, machen sich die Journalisten ans Werk. Die zahlenden Nutzer bilden einen temporären Club, in dem sie mit Gleichgesinnten diskutieren können und ihre Fragen und ihre eventuell vorhandene Expertise in die journalistische Arbeit einbringen. Sie zahlen also nicht nur für einen Text, sondern auch dafür, Teil eines Projekts zu sein. Ich finde, dass dieses Modell den Einfluss des Journalismus auf die Themensetzung stärken würde, ohne der Öffentlichkeit die Kontrolle zu nehmen: Das Publikum entscheidet zwar selbst, was es lesen will, doch es kann nur zwischen den Themen wählen, die die Redaktionen anbieten.

Das Modell funktioniert nicht für Breaking News: Hier fehlt die Zeit für das Crowdfunding und Crowdsourcing. Der Journalismus, der mir vorschwebt, zielt nicht auf Impact, sondern auf Engagement. Er setzt auf Menschen, die über den Tag hinaus an einem Thema interessiert bleiben. Ich glaube aber ohnehin, dass sich die aktuelle und die hintergründige Berichterstattung auseinander entwickeln werden, weil sich die redaktionellen Arbeitsweisen und die Geschäftsmodelle zu stark unterscheiden. Breaking News werden frei zugänglich und werbefinanziert bleiben – und weiterhin auf den Wellen der öffentlichen Erregung reiten. Doch diese Berichterstattung wird immer wieder wichtige Fragen offenlassen, um die sich Journalisten als Gatekeeper ebenfalls kümmern sollten.

Für diese Art von Journalismus kann man die Möglichkeiten des Digitalen noch besser ausschöpfen, anstatt sich weiter am Zeitungsjournalismus zu orientieren wie bisher. Dass die Print-Rhythmen den digitalen Nachrichtenalltag bestimmen, kritisiert auch die „New York Times“ in einer internen Analyse. Im digitalen Journalismus ist es zum Beispiel nicht nötig, ein anhaltend interessantes Thema jeden Tag mit einem neuen Artikel zu bedenken. Stattdessen könnte man (im Stil von Wikipedia) an einem Artikel arbeiten, der jeden Tag verbessert wird. (Wikipedia versucht wiederum, mit „WikiTribune“ Funken aus dem Crowdfunding-Ansatz zu schlagen.) Auch der Satz, dass der Leser kein Archiv habe, ist obsolet, denn dem Online-Leser kann man ein (gut aufbereitetes) Archiv an die Hand geben. Und nicht zuletzt dürfte es durch die Fortschritte im maschinellen Lernen für Journalisten einfacher werden, die womöglich verstreuten Interessenten zu finden und anzusprechen: Die Algorithmen werden besser als heute erkennen, worum es in einem journalistischen Beitrag geht, und ihn an Nutzer mit entsprechenden Präferenzen weiterleiten.

Gatekeeper für das zahlende Publikum?

Eine gute Lösung für das Gatekeeping-Problem ist aber auch dieses Modell nicht, denn es ist darauf ausgerichtet, das Vertrauen einzelner Menschen zu gewinnen – nicht das Vertrauen der Öffentlichkeit. Journalisten werden dadurch höchstens zu Gatekeepern für das zahlende Publikum und es besteht weiterhin die Gefahr, dass wichtige Themen außen vor bleiben. Mehr noch: Der öffentliche Raum könnte fragmentieren, wenn wichtige Themen jeweils nur einen Teil der Öffentlichkeit erreichen würden.

Das Modell ersetzt – mit anderen Worten – nicht die Zeitung, die ihren zahlreichen Abonnenten die wichtigsten Themen unter die Nase reibt. Diese Aufgabe wurde früher durch Anzeigenkunden ermöglicht und diese Geschäftsgrundlage ist eingebrochen. Die Abonnenten waren vielerorts bereit, einen Teil des Verlusts durch höhere Bezugsgebühren auszugleichen, doch diese Bereitschaft scheint nun ausgereizt zu sein. Ein Ausweg wäre, die unabhängige Themensetzung durch eine öffentliche Finanzierung zu gewährleisten: Journalisten also in Teilen von der Pflicht zu befreien, marktgängige Produkte zu schaffen. Doch hier steht die Debatte erst am Anfang (ein Diskussionsbeitrag aus der jüngeren Zeit stammt von Jens Rehländer).

 

Foto: Raphael Labbe / Flickr (CC BY-SA 2.0)