Eine Woche vor der Veröffentlichung dürfen akkreditierte Journalisten Aufsätze der renommierten Journals lesen. Man gewinnt dadurch zwar Zeit, aber verliert die Nähe zum Publikum. VON ALEXANDER MÄDER
Was waren noch einmal die Vorteile der Embargo-Politik der Fachjournale? Das System ist so zur Gewohnheit geworden, dass eine Vergewisserung nicht schadet. Man hat mehr Zeit für seinen Beitrag, lautet die gängige Antwort. Mehr Zeit in dem Sinn, dass man den Forscher auch morgen noch sprechen kann, wenn er gerade nicht erreichbar ist. Es gibt noch einen zweiten Vorteil, der jedoch seltener genannt wird: Die Sperrfrist schafft eine künstliche Aktualität. Die Beiträge in den Tageszeitungen, Onlineportalen und im Hörfunk erscheinen alle gleichzeitig und das erweckt den Eindruck, als sei in der Wissenschaft gerade etwas Aufregendes geschehen, auch wenn der Heureka-Moment schon eine Weile zurückliegen mag. Der Gleichklang der Medien verstärkt den Impact der Studien auf die öffentliche Debatte.
Das Verfahren ist so überzeugend, dass Wissenschaftsjournalisten in aller Welt die Embargo-Vereinbarungen unterschreiben und sich auch daran halten. Wie viele Kollegen bei ihnen akkreditiert sind, geben weder Science noch Nature bekannt, die beiden Magazine mit dem größten Impact sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien. Es dürften einige Tausend sein. Das Publikum ahnt nicht, dass Journalisten die Themen auf dem Tablett serviert bekommen: Geeignete Studien werden von PR-Fachleuten ausgewählt und aufbereitet. Doch das, so könnte man argumentieren, ist ebenso wenig ein Problem wie die künstliche Aktualität.
Mit dem Ablaufen der Sperrfrist erfährt die Wissenschaft nämlich eine Nachricht – und über dieses Ereignis berichten die Journalisten. In ihren Beiträgen weisen sie auf die aktuelle Publikation hin. In guten Beiträgen erklären sie darüber hinaus, was die einzelne Fachpublikation für die Forschung und die Gesellschaft bedeutet. Dass Journalisten hochrangige Fachjournale im Blick haben, hat seinen guten Grund: Die Magazine haben den Anspruch, das wissenschaftliche Verständnis der Welt maßgeblich voranzubringen. Ihr Auswahlverfahren – Nature und Science lehnen mehr als 90 Prozent der eingereichten Beiträge ab – ist zentral für die Qualitätssicherung in der Wissenschaft.
Wissenschaftsjournalismus verbessern
Wer so argumentiert, könnte also zugeben, dass der Wissenschaftsjournalismus auf Science und Nature fokussiert ist – möglicherweise zu stark, da es auch andere sehr gute Fachjournale gibt, über deren Studien nur selten berichtet wird. Er könnte auch zugeben, dass viele journalistische Beiträge in die Kategorie „Die Wissenschaft hat festgestellt…“ fallen und zu wenig Kontext bieten. Aber beides wäre kein grundsätzliches Problem der Embargo-Politik, sondern nur das Eingeständnis, dass man den Wissenschaftsjournalismus hier und da noch verbessern könnte.
Diese Antwort lässt einen wichtigen Punkt außer Acht: Journalisten sollten nicht über das berichten, was Wissenschaftler wichtig finden, sondern über das, was die Öffentlichkeit interessiert. Die neue Konfiguration des Lithium-Ionen-Akkus mag für die Forschung zum Beispiel eine Idee sein, die man sich genauer anschauen sollte, aber die Öffentlichkeit fragt sich vielmehr, ob die Elektroautos bald eine größere Reichweite haben werden. Die tagesaktuellen journalistischen Beiträge beantworten solche Fragen zu selten, weil sie sich zu sehr mit Neuerungen beschäftigen, deren Bedeutung noch nicht ausgemacht ist.
Diese Überlegung rückt die Bedeutung des wissenschaftlichen Auswahlverfahrens ins rechte Licht: Das Verfahren sichert die Qualität der wissenschaftlichen Publikation, aber es ist kein guter Indikator für die gesellschaftliche Relevanz der Studie. Mit anderen Worten: es ist sinnvoll, dass Journalisten Studien bevorzugen, die von Gutachtern geprüft worden sind. Aber statt sich von den Pressestellen der Fachjournale zur Recherche anregen zu lassen, sollten sie von den Fragen ausgehen, die gerade öffentlich diskutiert werden – und dazu in der Wissenschaft nach Antworten suchen.
Ein System ohne Embargo?
Diese Praxis können Journalisten natürlich verfolgen, ohne die Embargo-Politik der Fachjournale aufzukündigen. Aber wenn Wissenschaftsjournalisten die Vereinbarungen kollektiv beenden würden, wäre es einfacher, sich anderen Themen zu widmen als den hochrangig publizierten Studien. Der Gleichklang der Medien übt Druck auf die Kollegen aus, jede Woche in die Vorankündigungen von Nature und Science zu schauen. Den gefiederten Dinosaurier, der dort mit hübscher Illustration beworben wird, werden alle haben, lautet dann das Argument in der Redaktion. Das gemeinsame Aufkündigen der Embargo-Vereinbarungen wäre ein Signal, dass sich der Wissenschaftsjournalismus von der Wissenschaft weiter emanzipiert.
Was wären die Nachteile eines Systems ohne Embargo? Die Aktualität bliebe erhalten, denn Wissenschaftsjournalisten würden sich an aktuellen Themen orientieren. Manchmal würde ihnen jedoch die Zeit zur Recherche fehlen: nämlich dann, wenn in einem hochrangigen Journal etwas von öffentlichem Interesse publiziert wird. Ohne Sperrfrist würden Journalisten von diesen Studien überrascht werden. So war es im Mai 2013, als die Zeitschrift Cell eine Studie von Shoukhrat Mitalipov und dessen Kollegen veröffentlichte, in der sie das Klonen menschlicher Embryonen beschrieben. Die Ankündigung zu dieser Studie hatten manche Journalisten übersehen. Als die Sperrfrist um 19 Uhr auslief, war es nicht mehr möglich, die Forschung mit ihrer Vorgeschichte und den ethischen Problemen angemessen für die Tageszeitung aufzubereiten. Also gab es nur eine erste Nachricht, die am nächsten Tag gründlich ergänzt wurde. Das ist ungewöhnlich, aber nicht schlimm.
Dass man an einem Thema dranbleibt, kommt im Wissenschaftsjournalismus bisher nicht allzu häufig vor. Man bemüht sich vielmehr, das Thema gleich im ersten Beitrag umfassend abzuhandeln. Das erweckt den Eindruck, als bringe die Wissenschaft stets Definitives heraus, obwohl sich in den vergangenen Jahren – etwa bei Epidemien – gezeigt hat, dass die Wissenschaft zu politisch drängenden Fragen oft nur unsichere Antworten anbieten kann. Die statische Art, über Forschung zu berichten, kann daher sogar ein falsches Bild von der Wissenschaft vermitteln. Die Embargo-Politik trägt dazu bei: Sie bringt Journalisten dazu, ihre Beiträge in einem geschützten Raum, nur im Gespräch mit dem einen oder anderen ausgewählten Forscher vorzubereiten. Ohne Embargo würden Journalisten ihre Berichterstattung vielmehr innerhalb einer öffentlichen Debatte entwickeln – eine schöne Vorstellung von lebendigem, lesernahen Journalismus, oder?
Der Autor Alexander Mäder ist Wissenschaftsredakteur bei der Stuttgarter Zeitung.
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Kommentare
Ina Helms schreibt:
16. September 2016 um 02:50 Uhr
Ich versuch mal eine Argumentation Pro-Embargo, ohne dabei die Interessen der Verlage im Blick zu haben. Aber trägt das Embargo nicht auch zur Qualitätssicherung bei? Immerhin sichert es, dass das Peer Review Verfahren tatsächlich abgeschlossen ist, bevor Medien über eine Studie berichten.
Was würde passieren, wenn es das Embargo nicht gäbe: ein Wissenschaftler selbst oder eine Pressestelle lanciert ein Thema in die Medien, oder ein recherchierender Journalist ist durch Gespräche mit Wissenschaftlern darauf gestoßen, dass wohl bald eine Studie zum Thema xy erscheinen wird. Die Meldung würde dann heißen: „Nach eigenen Angaben hat Wissenschaftler xy herausgefunden, dass…“ oder „Institut xy berichtet, dass (zum Beispiel) der Wirkungsgrad von Solarzellen auf xx Prozent gesteigert werden kann…Die Studie erscheint demnächst in der Zeitschrift yz“. So oder ähnlich.
Die Leser, Hörer oder TV-Zuschauer haben zu diesem Zeitpunkt noch keinen Zugriff auf die Studie und können das Original also nicht einsehen. Erst, wenn die Zeitschrift erschienen ist oder der online-Link freigegeben ist, können Interessierte prüfen, was der Wissenschaftler tatsächlich herausgefunden hat. Oft stimmt das mit der Schlagzeile der Zeitungsüberschrift nicht wirklich überein.
Und zweitens: ab wann würden Journalisten es akzeptabel finden, darüber zu schreiben? Sobald das Paper bei der Zeitschrift akzeptiert wurde? Oder schon, sobald die Studie eingereicht wurde? In aufsehenerregenden Fällen würden Medien danach streben, die Ersten zu sein, die darüber berichten. Der Zeitpunkt würde immer weiter nach vorne geschoben. Oft werden aber im Gutachten-Prozess noch Veränderungen vorgenommen, auch an wichtigen Aussagen.
Im Extrem-Fall könnte sogar der Peer-Review-Prozess selbst unterlaufen werden. Dann nämlich, wenn Medien schon berichten, obwohl die Studie noch bei den Gutachtern liegt. Diese erfahren plötzlich aus den Medien, aus welcher Arbeitsgruppe das Paper stammt, dass sie gerade begutachten sollen. Die Anonymität wäre dahin – ein wesentlicher Bestandteil des Peer Review-Verfahrens.
Die Embargo-Praxis bedeutet ja nicht – um mal bei Alexanders Beispiel zu bleiben, dass Journalisten nicht nach der Reichweite von Elektro-Autos fragen und darüber schreiben sollen. Nur zu. Aber wenn sie über die aktuell veröffentlichte (oder sich in Publikation befindliche) Lithium-Ionen-Anordnung schreiben wollen, dann müssen sie warten, bis die Arbeit tatsächlich publiziert ist. Nichts anderes sagt das Embargo.
Alexander Mäder schreibt:
19. September 2016 um 12:33 Uhr
In meinem Kommentar habe ich mich nur mit dem Embargo für Journalisten befasst. Wenn es das nicht gäbe, würden sie von Studien am Publikationstag erfahren.
Aus Sicht der Wissenschaft kann es durchaus sinnvoll sein, die Wissenschaftler weiter zur Verschwiegenheit zu verpflichten. Der Peer Review würde dann nur unterlaufen, wenn Wissenschaftler Journalisten vorab informieren.
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[…] Themen, in denen wir uns kaum auskennen? Warum gibt es in unseren Texten rein technische Passagen? Dazu habe ich eine Theorie: Ich glaube, dass wir uns von den Fachjournalen immer wieder überraschend neue Themen aufdrängen […]