Dort, wo ein Faktencheck durch die Quellen nötig scheint, stimmt etwas mit der Themenwahl nicht. Ein Anstoß, wie man es anders machen kann. VON ALEXANDER MÄDER

Photo: CC BY-ND 2.0: gurmit singh/https://flickr.com/

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Als die WPK vor zwei Jahren auf der Wissenswerte zur Diskussionsrunde „Muss der Journalismus zum Forscher-Tüv?“ einlud, habe ich mir die Debatte gespart. Man schickt seine fertigen Artikel nicht an einen der zitierten Wissenschaftler, um sie auf Fehler durchsehen zu lassen. Das ist auf Tagungen wie der Wissenswerte die vorherrschende Meinung. Als Journalist muss man andere Wege finden, die Qualität der Beiträge zu sichern. Ich schicke meinen Gesprächspartnern zum Beispiel Protokolle des Interviews, die mir später als Material für meinen Artikel dienen. Und in meinem Ressort werden die Artikel nach dem Redigieren und dem Korrektorat noch einmal gelesen, bevor sie in den Druck gehen. Was soll man also lange diskutieren?

Heute möchte ich trotzdem über das Gegenlesen schreiben. Denn da ist zum einen die emotionale Seite, die nicht oft, aber doch manchmal zu spüren ist: Sich gegenüber Wissenschaftlern und Pressesprechern verteidigen zu müssen, weil man Artikel nicht gegenlesen lässt, ist aufwühlend, denn es geht um die Berufsehre. Als Wissenschaftsjournalist bin ich Journalist und lasse meine Artikel deshalb ebenso wenig kontrollieren, wie es ein Kollege aus dem Politikressort tun würde. Und da ist zum anderen die nagende Frage, was das Nicht-Gegenlesen-Lassen eigentlich bringt. Schreibt man wirklich unabhängiger, kritischer, lebendiger oder sonstwie besser, wenn man das Gegenlesen ablehnt? Würde nicht sogar ein großer Teil der Leser sich wünschen, dass Wissenschaftsartikel von Fachleuten geprüft werden?

Die Ansichten zu diesem Thema habe ich im Januar in einer kleinen Umfrage untersucht. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, denn es haben nur meine Freunde und Follower auf Facebook und Twitter geantwortet (und deren Freunde und Follower). Nach 100 Antworten habe ich abgebrochen, weil Surveymonkey dann kostenpflichtig wird. Obwohl ich gebeten hatte, dass sich jeder klar einer Berufsgruppe zuordnet – Wissenschaftler, Pressesprecher, Wissenschaftsjournalist oder keine davon, also Publikum – habe ich mehr als 100 Antworten erhalten. Möglicherweise haben manche ihre Erfahrungen als Pressesprecher und als Journalist beigesteuert. Wie nach den Erfahrungen auf der Wissenswerte zu erwarten war, haben nur 6 von 55 Journalisten gesagt, dass sie ihre Artikel regelmäßig gegenlesen lassen. 39 legen den Wissenschaftlern hingegen höchstens wörtliche Zitate vor, und 27 würden ein Interview sogar ablehnen, wenn das Gegenlesen zur Bedingung gemacht wird. Diese Bedingung stellen aber nur 2 von 18 Wissenschaftlern und 3 von 26 Pressesprechern.

Auf diese Zahlen sollte man nicht viel geben, denn sie zeigen nicht viel mehr, als dass ich ähnlich denke wie meine peer group in den sozialen Netzwerken. Ich hatte allerdings gehofft nachweisen zu können, dass das Gegenlesen verbreitet ist. Denn dann hätte dieser Kommentar eine empirische Grundlage. Die Umfrage ergibt allerdings kein klares Bild:

Tabelle 1: Häufigkeit des Gegenlesens

  Wissenschaftler Pressesprecher Wissenschaftsjournalist
Journalisten bitten oft darum, dass man ihren Artikel vor der Veröffentlichung gegenliest.

7 von 18

10 von 26

 –

Meines Wissens kommt das Gegenlesen häufig vor.

1 von 18

11 von 26

15 von 55

 

Eine nennenswerte Zahl der Teilnehmer bestätigt zwar meinen persönlichen Eindruck, dass das Gegenlesen verbreitet ist. Aber es bleibt offen, warum nur eine Minderheit diesen Eindruck hat. Wenn sie Recht haben sollte, müssten mehr Kollegen davon wissen. Es kann sein, dass die Gretchenfrage des Gegenlesens einen solchen Keil zwischen die Wissenschaftsjournalisten treibt, dass sie wenig vom Tun der anders arbeitenden Kollegen mitbekommen. Möglicherweise haben Pressesprecher einen besseren Überblick. Aber ich habe versäumt, die Fragen an sie auf Wissenschaftsjournalisten einzugrenzen. Es kann daher sein, dass auch Erfahrungen mit Journalisten anderer Ressorts in die Antworten der Pressesprecher eingeflossen sind.

Hier werden also die Begrenzungen der Umfrage deutlich. Meine Motivation, diesen Kommentar fortzusetzen, stammt aus einer anderen Quelle: den fast 50 Kommentaren, die ich über die Eingabemaske der Umfrage und die sozialen Netzwerke erhalten habe. Darin werden viele Punkte angesprochen. Ich zitiere sinngemäß aus vereinzelt geäußerten Bemerkungen:


  • Journalisten, die gegenlesen lassen, sind zu ängstlich.
  • Journalisten, die nicht gegenlesen lassen, sind zu stolz.
  • Das Gegenlesen schafft eine vertrauensvolle Atmosphäre.
  • Man sollte transparent machen, ob gegengelesen wird oder nicht.
  • Ein unbeteiligter Wissenschaftler könnte die Artikel gegenlesen. Das dürfte aber aufwendig zu organisieren sein.
  • Eine Redaktion hat den Artikel eines freien Autors gegen dessen Willen zum Gegenlesen geschickt.
  • Ein Wissenschaftler klagt darüber, dass Journalisten ihre Zusage, den Artikel vorzulegen, nicht immer einhalten.
  • Bei medienunerfahrenen Wissenschaftlern und bei Patienten hat man als Journalist eine besondere Verantwortung.
  • Auch Radio- und Fernsehjournalisten können im Prinzip Redetexte gegenlesen lassen. Die Umfrage hätte sich daher nicht auf Print- und Onlinejournalisten konzentrieren müssen.
  • Unsicherheiten bei der Beantwortung der Umfrage: (1) Sind mit „Interview für einen Beitrag“ auch Wortlaut-Interviews gemeint? (2) Zählt es noch als Gegenlesen wörtlicher Zitate, wenn man dem Wissenschaftler auch den Kontext des Zitats vorlegt?

In den übrigen Kommentaren fielen mir zwei Trends auf: (1) Die Position, dass das Gegenlesen zumindest in einigen Fällen zulässig sei, wurde deutlich häufiger begründet als die Mainstream-Position, dass dies unjournalistisch sei. Das erinnert mich an meine eigene Haltung zu diesem Thema: kein wirklicher Gesprächsbedarf. (2) Zwischen 10 und 15 Teilnehmern beklagten sich, dass ich ihre Zwischenposition nicht abgefragt habe. Sie lassen nur in bestimmten Fällen gegenlesen: wenn es um technische Details und reine Erklärstücke geht – aber nicht bei kontroversen Themen, Porträts und Reportagen. Auf diese Unterscheidung zwischen Erklärung und Einordnung gehe ich gleich ein.

Die Medienforschung scheint sich für diese Debatte nicht zu interessieren. Auch sonst gibt es nicht viel Schriftliches dazu. Nur im Herbst 2011 flammte in den USA eine Debatte auf, als der Wissenschaftler David Kroll das Thema in einem PLoS-Blog aufbrachte. Der britische „Guardian“ veröffentliche daraufhin ein Pro und Contra, dann wurde es wieder ruhig. Im Grunde ist die Debatte auch einfach strukturiert. Wenn man von Nuancen absieht, gibt es zwei Gründe dafür, dass sich der Wissenschaftsjournalismus von anderen journalistischen Themengebieten unterscheidet: (1) Die Wissenschaft umfasst viele Disziplinen, und man kann sich als Journalist nicht in allen auskennen. Deshalb ist hier das Gegenlesen sinnvoll, während es in anderen journalistischen Feldern undenkbar ist. Dort kann man sich aber beispielsweise auf bestimmte Parteien, Politiker oder Gesetzesvorhaben konzentrieren. (2) Die Wissenschaft findet in der Öffentlichkeit Gehör, weil sie besonders zuverlässig ist. Wenn man als Journalist Fehler macht, kann die zweifelhafte Berichterstattung daher auf die Wissenschaft zurückfallen und das Vertrauen in sie untergraben.

Faktenfehler kommen zwar vor, sind aber ein vergleichsweise kleines Problem

Dem wird entgegengehalten, dass die Unabhängigkeit für den Journalismus ein wichtigeres Gut ist als die Faktentreue. Wenn ein Journalist Fehler macht, kratzt das am Lack, aber wenn er mit dem Wissenschaftler unter einer Decke steckt, ruiniert das seine Glaubwürdigkeit. Es spielt dabei keine Rolle, ob der Wissenschaftler beim Gegenlesen tatsächlich Einfluss auf den Text nimmt. Als Journalist muss man den Verdacht ausschließen, dass er es tun könnte. Die Unabhängigkeit ist wie ein Joker, den man ziehen kann, aber nicht muss. In den meisten Texten offenbart sie sich nicht. Bei einer Blindprobe würde man deshalb vielleicht gar nicht erkennen, welche Berichte von Journalisten und welche von Pressesprechern geschrieben worden sind. Der Unterschied fällt womöglich erst auf, wenn die Wissenschaft in die Kritik gerät und der Sprecher sie verteidigen muss.

Es genügt nicht, in diesen kritischen Fällen auf das Gegenlesen zu verzichten, denn der plötzliche Wechsel der Methoden lässt sich nicht glaubwürdig vermitteln. Wie will man garantieren, dass man nun eine andere Haltung zu den Wissenschaftlern einnimmt, mit denen man bisher vergleichsweise eng zusammengearbeitet hat? Diesem Bruch beugen meines Wissens einige Kollegen vor, indem sie ihre Texte den Wissenschaftlern ausdrücklich nur zur Faktenkontrolle vorlegen. Anmerkungen zum Stil, Aufbau und Tonfall des Beitrags würden nicht zur Kenntnis genommen, schärfen sie den Wissenschaftlern ein. An dieser Stelle fällt mir die Diskussion schwer, weil ich nicht an der Integrität und dem guten Willen der Kollegen zweifle. Aber wie sieht es wohl das Publikum? Müsste man nicht stärker um Vertrauen werben – nicht um Vertrauen in saubere Recherche, sondern um Vertrauen in die eigene Unbeugsamkeit? Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das möglich ist, glaube aber, dass man dafür häufiger kritische Beiträge schreiben müsste, bei denen das Gegenlesen nicht in Frage kommt.

Ob das Gegenlesen erfolgreich Fehler vermeidet, wurde meines Wissens noch nicht untersucht. Ich möchte drei Studien zur Qualität im Wissenschaftsjournalismus zitieren, die zumindest Zweifel am Nutzen des Gegenlesens begründen: (1) Holger Wormer und Marcus Anhäuser haben die ersten 170 Gutachten des Medien-Doktors ausgewertet. In 18 Prozent der Beiträge sind den Gutachtern Faktenfehler aufgefallen. Das klingt nach viel, ist aber ein vergleichbar kleines Problem, denn fast alle anderen Kriterien wurden häufiger verletzt. Um nur einige Beispiele zu nennen: in 76 Prozent der untersuchten Medizinbeiträge wurde die Evidenz nicht richtig beschrieben, in 71 Prozent wurden die Nebenwirkungen einer Therapie nicht genannt und in 62 Prozent keine unabhängigen Experten befragt. (2) Hans Peter Peters hat vor einigen Jahren mit seinen Kollegen Stammzellforscher und Epidemiologen in Deutschland gefragt, ob sie nach ihrem jüngsten Medienkontakt zufrieden waren. 60 Prozent waren es, nur 5 Prozent waren unzufrieden – und das vermutlich nicht allein wegen der Faktenfehler. (3) Petroc Sumner hat mit seinen Kollegen Übertreibungen in journalistischen Artikeln untersucht. Als Übertreibung galt beispielsweise, eine Korrelation als kausalen Zusammenhang auszugeben. In 39 Prozent der untersuchten Artikel wurde der Zusammenhang stärker formuliert als im Fachartikel, aber das ging typischerweise mit einer Übertreibung in der Pressemitteilung einher. Der Zusammenhang ist so deutlich, dass man fast denken könnte, die Journalisten hätten nur die Pressemitteilung gelesen, nicht aber den Fachartikel. Insgesamt halte ich es daher für möglich, dass beim Gegenlesen nur Kleinigkeiten korrigiert werden, die den Autor vor Peinlichkeiten bewahren, aber der Wissenschaft keinen Schaden zugefügt hätten.

Wo Gegenlesen nötig scheint, stimmt etwas mit der Themenwahl nicht

Mich überzeugt auch das erste der beiden Argumente für das Gegenlesen nicht. Warum schreiben wir über Themen, in denen wir uns kaum auskennen? Warum gibt es in unseren Texten rein technische Passagen? Dazu habe ich eine Theorie: Ich glaube, dass wir uns von den Fachjournalen immer wieder überraschend neue Themen aufdrängen lassen. Wenn man regelmäßig über die neuesten Studien berichtet, die Science & Co. ihren akkreditierten Journalisten empfehlen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man Experimente beschreiben muss, die man gerade so versteht. Aber diese Studien sind nicht die verlässliche Forschung, auf die die Öffentlichkeit wartet. Das ist cutting edge research – neuartig und unbestätigt, verblüffend und fragwürdig. Das peer-review-Verfahren sorgt zwar für ein hohes Maß an Qualität, aber die Verlässlichkeit entsteht erst im Lauf der kritischen Diskussion innerhalb der Wissenschaft. Ich plädiere daher dafür, stattdessen über Erkenntnisse zu schreiben, die zwar älter, aber etabliert sind. Das könnte auch zum tagesaktuellen Journalismus passen, wenn es um Fragen geht, die die Öffentlichkeit bewegen. Als Journalist würde man zu diesen Themen die wissenschaftliche Expertise zusammentragen.

Nach dem Klimagipfel in Paris könnten sich Journalisten zum Beispiel den Fragen widmen, die sich aus dem neuen Vertragstext ergeben: Müssen Atomenergie und Geoengineering nun neu bewertet werden? Wird der Klimawandel mehr Menschen zu Flüchtlingen machen, weil er ihre Existenzgrundlage zerstört? Und was bedeutet das verschärfte Ziel im Klimaschutz? Nach der bisherigen Berichterstattung könnte man denken: bei einem Temperaturanstieg um 2,0 Grad gehen flache Gebiete wie die Marshall-Inseln unter, bei 1,5 Grad nicht. Aber das sind in Wirklichkeit Wahrscheinlichkeitsaussagen. Um sie einzuordnen, müsste man über die Computersimulationen schreiben, aus denen sie sich ergeben. Das geht womöglich nicht ohne technische Passagen, aber in diesem Fall wären sie stärker motiviert als sonst – es wäre mehr als das übliche Fachsimpeln. Statt sich jede Woche neue Themen aus den Fachjournalen zu suchen, hätten Journalisten hier die Chance, sich in ein gesellschaftlich relevantes Thema einzuarbeiten. Aber ich befürchte, dass wir nach einer Ermüdungspause in Sachen Klima wieder Artikel über einzelne Forschungsergebnisse schreiben werden, ohne sie in einen Zusammenhang zu stellen oder uns wirklich für die Hintergründe zu interessieren.

Statt um cutting edge research, sollten wir uns um anderes kümmern

Ein anderes Beispiel: parallel zum Klimagipfel haben sich zwölf Wissenschaftler in Washington getroffen, um über die ethischen Fragen zu diskutieren, die das gene editing aufwirft. In ihrer Abschlusserklärung empfehlen sie, die neue Methode Crispr/Cas9 frühestens dann bei menschlichen Embryonen einzusetzen, wenn es einen breiten gesellschaftlichen Konsens dazu gibt. Von dem ist man weit entfernt, da viele Staaten Eingriffe in die Keimbahn gesetzlich verboten haben. In den Medienberichten über das Treffen dominieren die Erläuterungen dazu, wie die Methode funktioniert und wo man sie anwenden könnte. Die ethischen Argumente werden hingegen nur angerissen und beschränken sich oft darauf, die Gefahr von Designer-Babys zu erwähnen. Schon hier geht die begriffliche Präzision der Ethik verloren, denn es wird nicht diskutiert, welche Sorgen sich mit dem Begriff des Designer-Babys eigentlich verbinden. Ich schlage daher vor, künftig den einen oder anderen Beitrag – nach der Veröffentlichung – von einem Philosophen oder Soziologen gegenlesen zu lassen. Ich vermute, dass es dann um mehr gehen würde als nur um technische Details.

Womöglich wäre es am Anfang einfacher, diesen journalistischen Zugang außerhalb des etablierten Mediensystems auszuprobieren. Mir schweben „Rechercheclubs“ vor, in denen eng umrissene aktuelle Fragen beantwortet werden. Interessierte könnten sich gegen eine Gebühr einkaufen und mitdiskutieren. Je mehr Leser zahlen, umso mehr Geld stünde für die Recherche und Aufbereitung der Ergebnisse zur Verfügung. Und wenn der Journalist oder das interdisziplinäre Journalistenteam einen neuen Sachstand recherchiert hat, gibt es keinen neuen Artikel, sondern eine neue Version des alten. Das Ergebnis wäre eine laufend verbesserte Antwort auf die Ausgangsfrage. Mit diesem Ergebnis würde man sich in mehr als nur der Unabhängigkeit von Pressesprechern unterscheiden: Journalisten würden eine neue Form von gesellschaftlich relevantem Wissen hervorbringen. Ihre Arbeit würde am ehesten der von Gremien entsprechen, die wie der Ethikrat oder die Nationale Akademie der Wissenschaften Empfehlungen für die Politik erarbeiten. Aber in den Medien würden diese Empfehlungen offener und transparenter wachsen, als es sonst möglich ist.


Mäder2_Alexander CroppedDer Autor Alexander Mäder ist Wissenschaftsredakteur bei der Stuttgarter Zeitung.