False Bilanz – Warum Reisins Zeugnis für den WissJour irrig ist

Andrej Reisin hat dem Wissenschaftsjournalismus in einem Essay für Übermedien ein miserables Zeugnis ausgestellt. Laut Reisin hat die wissenschaftsjournalistische Szene in Deutschland im Umgang mit der Coronapandemie versagt.

Er kritisiert nicht einzelne Artikel, Medien oder Autor:innen – sondern gleich die ganze Szene, ein schwer fassbares Kollektiv von Wissenschaftsjournalist:innen. Unter anderem wirft er der Profession vor, sich aus einem kollektiven Dünkel heraus – wir haben Ahnung von Wissenschaft, alle anderen nicht –   an die Lippen einiger weniger Wissenschaftler:innen geheftet und davon abweichende, aber durchaus plausible und legitime wissenschaftliche Positionen zu umstrittenen Fragen der Coronapandemie negiert zu haben.

Mit diesem Verhalten, in dessen Folge Wissenschaftsjournalist:innen von Leitmedien wie ZEIT, SPIEGEL, WDR oder Süddeutscher Zeitung  Widersprüche, Lücken und Interessenskonflikte von Wissenschaftler:innen bewusst ignoriert hätten, habe der Wissenschaftsjournalismus letztlich sogar Verschwörungsdenken befeuert: Weil diese Journalist:innen sich den Status des wissenden Gatekeepers angemaßt haben, hätten sie die Diskussion durchaus plausibler Alternativen aus den „seriösen“ Medien ferngehalten und so erst den Eindruck erweckt, das wissenschaftsjournalistische Besserwisser-Kollektiv habe etwas zu verheimlichen. Reisins Essay gipfelt im schlimmsten Vorwurf, den man einer Gruppe von Journalist:innen nur machen kann. Er schreibt:

„Statt ein „Folgt der Wissenschaft!“ zu proklamieren, das am Ende doch nur die Wissenschaft meint, der man selbst gerade am liebsten folgen möchte, wäre es besser, wenn Wissenschaftsjournalismus es sich zwischen allen Stühlen unbequem machen und das Objekt seiner Berichterstattung genauso kritisch befragen würde, wie es die meisten Kolleg:innen und die Öffentlichkeit vom Politikjournalismus auch erwarten. Leichter wird das Geschäft dadurch nicht. Doch alles andere ist eben PR.“

Ein vernichtendes Urteil, sagt es doch unverhohlen, dass der Wissenschaftsjournalismus nicht in der Lage sei, journalistischen Qualitätsstandards zu genügen. Wissenschaftsjournalismus ist für Reisin eben deshalb gar kein Journalismus, sondern „verlängerte Wissenschafts-PR“ im Gewand des Journalismus, quasi der Feind im eigenen, journalistischen Lager.

Reisins Recherchen: Mangelhaft

Wer so apodiktisch und harsch über ein ganzes Kollektiv urteilt und ihm die Professionalität abspricht, sollte sehr gute Argumente auf seiner Seite haben. Die sucht man in dem Essay allerdings meist vergeblich, zudem finden sich so manche Fehler, die den Eindruck vermitteln, dass Reisin es weder mit der Recherche sehr genau nimmt, noch über jenes wissenschaftliche Fachwissen verfügt, dass es ihm erlauben würde, sich derart über die extrem herausfordernde Arbeit der wissenschaftsjournalistischen Szene im Weltereignis Pandemie zu erheben.

Fangen wir mit einer scheinbaren Petitesse an. Reisin kritisierte in der ursprünglichen Fassung seines Artikels unter anderem Volker Stollorz, Leiter des Science Media Centers Germany (SMC), dem laut Reisin im Jahr 2020 für seine wissenschaftsjournalistische Arbeit das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde. Tatsächlich wurden Volker Stollorz und das SMC für ihre herausragende journalistische Arbeit mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt das SMC 2020 den Sonderpreis des Netzwerks Recherche. Das Bundesverdienstkreuz allerdings hat Stollorz bisher nicht erhalten, weder 2020, noch davor. Es hätte sein können, mit Mai Thi Nguyen-Kim, die Reisin in seinem Essay ebenfalls stark kritisiert, ist 2020 tatsächlich eine Wissenschaftsjournalistin für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Die Tücke liegt hier – wie so oft – im Detail. Die Übermedien-Redaktion hat diesen Fehler inzwischen korrigiert, weil sie von einem Wissenschaftsjournalisten darauf aufmerksam gemacht wurde – so viel Ironie muss sein.

Fahrlässiges Desinteresse an der Laborhypothese?

Mit exakt diesem Muster lassen sich einige der „Belege“, mit denen Reisin zu zeigen beansprucht, dass der Wissenschaftsjournalismus seinen Job verfehlt hat, als Recherchefehler dechiffrieren. Dem ZEIT-Wissenschaftsjournalisten Andreas Sentker attestiert Reisin etwa fahrlässiges Desinteresse an der Frage, ob das Coronavirus auf natürlichem Wege entstanden oder einem chinesischen Labor entsprungen ist. Reisins Argument:

„Es ist aber eine durchaus lohnenswerte Aufgabe für den Wissenschaftsjournalismus, sich der Frage des Ursprungs von SARS-CoV-2 unvoreingenommen zu widmen. Stattdessen wird mehrheitlich abgewiegelt: Die Suche nach dem Ursprung der Pandemie sei fruchtlos, meint zum Beispiel Andreas Sentker, geschäftsführender Redakteur der „Zeit“ und seit 1998 Leiter des Ressorts Wissen: „Das Ziel von Seuchenfahndern ist es, Patient null zu finden, den ersten Menschen, der sich mit einer Krankheit infiziert hat. Bei Ebola dauerte diese Suche Jahrzehnte. Bei einer Krankheit, die weitgehend symptomlos übertragen werden kann, ist ein Erfolg nahezu ausgeschlossen.“ Das steht im bemerkenswerten Widerspruch zur durchaus erfolgreichen Suche bei SARS und MERS.“

Der Widerspruch, den Reisin konstruiert, ist jedoch keiner, denn SARS und MERS verlaufen extrem selten völlig symptomfrei, und daher lässt sich bei diesen zoonotischen Erkrankungen die Quelle der Infektionen im Tierreich grundsätzlich leichter ermitteln. Das heißt: Bei SARS und MERS konnte man mit Erfolg nach „Patient null“ und dem Infektionssprung vom Tier auf den Menschen suchen, weil so gut wie jeder Infizierte Krankheitssymptome zeigte. Auch hier gilt wieder: Die Tücke liegt im Detail – und im umfangreichen Orientierungswissen, dass eine Vertrautheit mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse bedingt. Die Aussage von Andreas Sentker ist insofern korrekt, die Reisinsche Analogiebildung zwischen verschiedenen Krankheiten klingt dagegen nur dann plausibel, wenn man das Wissen um die Entstehung zoonotischer Infektionserkrankungen ignoriert bzw. nicht kennt.

Ein weiteres Beispiel? Reisin glaubt in Wissenschaft und im Wissenschaftsjournalismus ein „Pochen auf Autorität“ diagnostizieren zu können, kritische Nachfragen würden zu schnell unter den Tisch gekehrt. Dabei übersieht er jedoch, dass es in der Wissenschaft und entsprechend auch in der Beobachtung der Wissenschaft durch Journalismus wesentlich um Belege für Hypothesen und nicht um bloße Meinungen gehen sollte.

False balance falsch verstanden

Ein häufiges Problem in der Berichterstattung ist die „false balance“. Machen wir es mit einem Beispiel deutlich: Bei der Frage nach den Ursachen des Klimawandels gibt es die längst widerlegte Hypothese, dass die Sonnenflecken für die Erderwärmung verantwortlich seien. Und es gibt einen überwältigenden Konsens von Klimawissenschaftlern, die auf verschiedenen Wegen belegt haben, dass anthropogen verursachte Treibhausgase die Erwärmung verursachen. Heutige Wissenschaftsjournalist:innen werden den Anhängern der Sonnenflecken-Theorie kein Forum mehr bieten. Sie werden die Vielfalt der Stimmen verringern, alles andere wäre „false balance“. Während eine Pluralität von Meinungen in weiten Bereichen der politischen Debatte durchaus ein Wert ist, geht es in der Wissenschaft – und oft auch im Wissenschaftsjournalismus – um die Suche nach der richtigen Hypothese, der richtigen Antwort und die Belege zu einer konkreten Frage. Noch einfacher: Zwei plus zwei ist nun einmal vier. Wer etwas anderes behauptet, muss nicht ständig gehört oder zitiert werden. Außer wenn es darum geht zu erklären, mit welcher Erkenntnistheorie „Flat Earther“ beweisen, dass die Erde eine Scheibe ist.

Natürlich gibt es in den Wissenschaften legitimen Streit um Argumente, z.B. wenn epistemische Unsicherheit herrscht, es an verlässlichen Daten mangelt, Modelle die Wirklichkeit nicht widerspiegeln können oder interdisziplinäre Kontroversen toben bezogen auf einen Erkenntnisgegenstand. Als wesentliche Voraussetzung für produktive Kritik und organisierte Skepsis innerhalb der integren Wissenschaft gilt jedoch, dass der Kritiker versuchen muss, Fehler in den Argumenten des Kritisierten aufzuzeigen. Aus einer solchen Kritik resultiert erst eine fruchtbare und lösungsorientierte Debatte. Genau das ist bis heute zum Beispiel bei der Frage nach der Infektiosität von Kindern der Kern der wissenschaftlichen Diskussion – ein Sachverhalt, den Reisin unterschlägt. Stattdessen diagnostiziert er eine interdisziplinäre Kontroverse, wo es im Kern um die schwierige Abwägung zwischen dem unbestrittenen Wert der Bildung und der virologisch und epidemiologisch zu klärenden Frage geht, wie stark Kinder in Schulen am Infektionsgeschehen teilhaben –  ohne selber schwer zu erkranken. Ersteres hängt von Einschätzungen, Werten und gesellschaftlichen Prioritäten ab, letzteres lässt sich naturwissenschaftlich klären.

Nicht jede Stimme verdient Beachtung nur weil sie vom Mainstream abweicht

Reisin schreibt selbst, es spreche sehr viel für die These, dass der Ursprung des Coronavirus eine Zoonose und kein Laborunfall ist – wobei er übrigens unterschlägt, dass es zwischen Bioterrorismus, einer Manipulation durch „Gain of Function“-Experimente, dem Passagieren verwandter Fledermausviren in menschlichen Zellkulturen oder in Labortieren oder einem fahrlässigen Umgang mit Sicherheitsroutinen im Labor in Wuhan entscheidende Unterschiede gibt. Dennoch kritisiert er den Wissenschaftsjournalismus dafür, dass er dem Hamburger Physik-Professor Roland Wiesendanger nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet habe, der doch Autor einer Studie sei, die den Laborursprung zu belegen gesucht habe. Wie charakterisiert Reisin selbst die Qualität der Arbeit Wiesendangers?

„Seine Methode bestand jedoch aus willkürlichem Ineinanderkopieren von wissenschaftlichen Quellen, chinesischen Social-Media-Screenshots, der „Epoch Times“ und anderer Artefakte, die am Ende nur ein Sammelsurium darstellen, das nichts belegt.“

Muss man wirklich noch begründen, warum man Wiesendangers Paper vor diesem Hintergrund für das hält, was es de facto ist, nämlich vernachlässigbarer Forschungsmüll? Für Reisin liegt die Sache offenbar anders, und schon die Begründung dafür ist bemerkenswert. Für Reisin sind Stimmen wie jene von Wiesendanger einfach deshalb interessant und somit unbedingt berichtenswert, weil sie abweichen vom Mainstream. Diese Normabweichung erst generiert den Nachrichtenwert, sie sei gar „Symptom für eine Lücke im Diskurs“. Wer das – wie der Wissenschaftsjournalismus – mehrheitlich nicht schnallt und deshalb Wiesendanger weitgehend ignoriert, verfehle seinen Beruf, denn er interessiere sich nicht für die Diskurslücke. Offenbar folgt Reisin hier einem Journalismuskonzept, das er für so selbstverständlich hält, dass ein Abweichen davon für ihn einem beruflichen Versagen gleichkommt. Denkt man das zu Ende, also dass man selbst einem zusammenkopierten Sammelsurium, das nichts belegt, journalistische Aufmerksamkeit schenken muss, wird deutlich, wie absurd das Reisinsche Journalismusverständnis ist. Es spielt letztlich das perfide Spiel aller Verschwörungstheorien mit, demzufolge jedes Argument in der journalistischen Arena, mag es noch so dumm sein, aufgegriffen werden müsse. Wenn nicht, mache man sich der Zensur schuldig und maße sich laut Reisin zudem die Hybris an, entscheiden zu können, wer massenmedial sichtbar wird und wer nicht.

Dem Ursprung des Virus auf der Spur

Selbstverständlich kann und muss man der Frage nach dem Ursprung des Virus weiter nachgehen. Wissenschaftsjournalist:innen haben das in der Vergangenheit national und vor allem international getan und tun es weiterhin – zum Beispiel durchaus prominent und sehr früh in dem Artikel „Woher kam das Virus?“ in der FAZ. Letztlich kann diese Frage aber nicht allein von Wissenschaftsjournalist:innen beantwortet werden, sondern erfordert eine intensive Zusammenarbeit von Kolleginnen und Kollegen aus dem Investigativ-, Wissenschafts-, und Politikressort, weil viele interessierte Kreise in dieser Auseinandersetzung Informationen lancieren oder zurückhalten, deren letztgültige journalistische Überprüfung schwierig ist. Solange aber die Qualität der und der Zugang zu Informationen nicht besser wird, lässt sich die Frage eben nicht klären, vor allem nicht durch munteres Ventilieren von Spekulationen aus Quellen, deren Herkunft sich nicht seriös überprüfen lässt, wie unlängst der Wissenschaftsjournalist Joachim-Müller-Jung in einem Artikel zum Virusursprung mit dem bezeichnenden Titel „Die Rache der Ideologen an der Virologie“ erläutert hat.

Auswahl von Expert:innen zentraler Teil der Profession

Bei aller Bescheidenheit: Wer nicht unterscheiden kann, wem man als Wissenschaftsjournalist:in Gehör schenkt und wem nicht, der und die hat in diesem anspruchsvollen Beruf nichts zu suchen. Was Reisin als Arroganz der wissenschaftsjournalistischen Kaste geißelt, nämlich die Begrenzung der Auswahl von Expert:innen, ist vielmehr zentraler Teil ihrer professionellen Rolle im öffentlichen Debattenraum. Gute Wissenschaftsjournalist:innen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie domainspezifische, also fachliche Expertise erkennen, also begründen können, warum man einer bestimmten Position gerade in einer Situation erheblicher Unsicherheiten begründetes Vertrauen entgegen bringen kann. Wer wie Reisin das nicht nur nicht versteht, sondern im Gegenteil sogar der Meinung ist, jeder Inhaber eines Lehrstuhls sei bei der Suche nach Antworten auf komplexe Fragen willkommen, begreift weder, was gute Wissenschaft ausmacht, noch welche unverzichtbare Lotsenfunktion für öffentliche Debatten Wissenschaftsjournalist:innen hier einnehmen. Wenn Reisin das Ergebnis wissenschaftsjournalistischer Recherche nur als „merkwürdige Form von Gatekeeping“ lesen kann, die infolge einer überheblichen Dünkelhaftigkeit letztlich nur einfältiges Gruppendenken befördere, der dokumentiert mit diesen Urteilen vor allem, dass er vollends aus den Augen verloren hat, warum es im Journalismus geht: Die ersten drei “Elements of Journalism” in dem Klassiker der Journalisten Kovach und Rosenstiel lauten: “Journalism first obligation is to the truth, its first loyalty to citizens, its essence is a discipline of verification.”

Reisin blendet aus, dass viele Akteure in der Öffentlichkeit mitnichten darauf abzielen, die Erkenntnissuche voranzutreiben, sondern eigene Interessen und Ziele verfolgen. Die Einwände richten sich nicht an die Wissenschaft, sondern an Politik, Öffentlichkeit und Entscheidungsträger. Im Zweifel für den Zweifel, heißt der Schlachtruf aller Populisten im Umgang mit unbequemer Wissenschaft. „Flood the zone with shit“, so spitzte es Steve Bannon zu, der ehemalige Chefstratege von Donald Trump. Es geht bei diesem toxischen Zweifel meist darum, Nichthandeln selbst dort nahezulegen, wo die Evidenzen der Wissenschaft mit Blick auf mögliche Handlungsfolgen ziemlich eindeutig sind. Das haben Diskurse wie die um den menschengemachten Klimawandel und die Risiken des Rauchens über Jahrzehnte gezeigt. Diese Form der pseudowissenschaftlichen Kritik findet sich typischerweise in der Religion, in der Politik oder auch im Gerichtssaal. Aus diesen sozialen Zusammenhängen wissen wir, dass dabei zumeist nicht fachlich versierte Forschende überzeugt werden sollen, sondern Menschen, die dem angeblichen Zwist in der Wissenschaft nur zuschauen und die Stichhaltigkeit der Kritik sachlich kaum beurteilen können. Eben deshalb ist es im öffentlichen Umgang mit wissenschaftlichem Wissen ein perfider und leider in öffentlichen Debatten besonders wirksamer Weg, Außenstehende für sich zu gewinnen, indem man den „Gegner“ falsch darstellt. Denn erst wenn man dessen Position weniger glaubwürdig erscheinen lässt, als sie es tatsächlich ist, entsteht die erwünschte Verwirrung. Genau so geht Reisin mit dem Wissenschaftsjournalismus um, indem er einen Strohmann zeichnet, um die Normen der Profession im Gestus der Investigation aus den Angeln heben zu können. Applaus bekommt er dabei erwartbar von denen, die den Umgang mit der Pandemie als komplett übertrieben darstellen.

Mit vernünftiger Recherche in kakophone Räume eindringen

In der Tat ist die Wissenschaft keine Demokratie, sondern ein Ort der methodischen Suche nach den besten Argumenten. Solche Argumente zeichnen sich dadurch aus, dass man sie nur mit schlechteren Gründen ignorieren kann. Für viele öffentliche Debatten mit Bezug zur Wissenschaft ist charakteristisch, dass wir mit einer Vielzahl an Positionen und Meinungen konfrontiert sind, also ein kakophoner Raum entsteht, der Orientierung und damit auch das Treffen vernünftiger Entscheidungen massiv erschwert. Die „merkwürdige Art von Gatekeeping“, die Reisin dem Wissenschaftsjournalismus vorwirft, nun als Ausdruck von willkürlicher Diskursverengung durch selbst ernannte News-Torwächter zu diskreditieren, missversteht gründlich, worum es geht, wenn man mit wissenschaftsjournalistischen Recherchen in diese kakophonen Räume interveniert.

Es geht in der professionellen Beobachtung der Wissenschaft eben nicht um Diskursverengung, sondern um bestmögliche Orientierung, so sie denn in Form begründeterer Expertise identifizierbar ist. Natürlich unterliegt diese Orientierungsleistung in einem Umfeld echter epistemischer Unsicherheiten und stetig wechselnder Erkenntnisse einer hohen Dynamik. Nicht alles, was gestern bestmögliches Wissen war, hält dem Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften stand. Aber diese ex-post-Einsicht ist billig. Denn es ist ja geradezu die entscheidende Stärke einer integren Wissenschaft, dass sie revidierbar bleibt. Und es ist eine Stärke des Wissenschaftsjournalismus, das immer wieder deutlich zu machen.

Der Anspruch des Qualitäts-Wissenschaftsjournalismus ist deshalb nicht, ewige Wahrheiten aus dem Munde weniger Koryphäen zu verbreiten, sondern bestmögliches, d.h. gut begründetes Wissen zu einem Zeitpunkt zu identifizieren, in dem Gesellschaften offene Fragen haben. In dem kollektive Entscheidungen getroffen und möglichst begründete Handlungen eruiert werden müssen. Mit Wissenschafts-PR hat das nichts zu tun, es sei denn, man verwechselt –  wie Reisin –  das Resultat dieser anspruchsvollen Rechercheleistung von Journalist:innen mit distanzloser Liebe zu ihrem Berichterstattungsgegenstand. Wer so denkt, muss allerdings erklären, mit welchen Methoden er denn stattdessen eine begründete von einer unsinnigen Position unterscheiden möchte. Würfeln? Oder wenn viele Expert:innen A sagen, irgendeinen finden, der Nicht-A für richtig hält? Oder von A bis Z alles berichten, was auf dem Markt der Meinungen verfügbar ist?

Das Beispiel Hendrik Streeck

Besonders deutlich wird dieses fundamentale Missverständnis an der Stelle im Text, an der Reisin den Virologen Hendrik Streeck zu Ehren kommen lässt. Er ist für ihn das Paradebeispiel dafür, wie Wissenschaftsjournalist:innen ihre Diskursmacht missbrauchen. Streeck habe seine Studie über das Pandemiegeschehen in Gangelt in einer renommierten Fachzeitschrift veröffentlicht, sei unter Fachkollegen weitgehend unwidersprochen geblieben und werde von den Wissenschaftsjournalist:innen dennoch nicht in gleicher Weise als Experte konsultiert wie etwa Christian Drosten. Diese Geschichte ist zu falsch, um wahr zu sein. Streeck war zu Beginn der Pandemie-Berichterstattung ein auch von Wissenschaftsjournalist:innen häufig konsultierter Virologe. Aber Streeck als HIV-Forscher ist in der Wissenschaft damit noch kein ausgewiesener Coronaviren-Experte gewesen wie Christian Drosten, der bereits vor Beginn der Pandemie viele Jahre an Coronaviren geforscht hatte. Insofern wundert es auch nicht, dass Drostens Urteil zunächst mehr Raum eingeräumt wurde als dem vieler anderer Virolog:innen. Die wachsende Kritik an Streeck war zudem nicht das Ergebnis einer fragwürdigen wissenschaftsjournalistischen Gatekeeping-Praxis, sondern allein dem Umstand geschuldet, dass Streeck sich sowohl mit Blick auf die Gangelt-Studie, als auch mit anderen fachlichen Einschätzungen zum Coronageschehen selbst vielfältiger fachlicher Kritik ausgesetzt gesehen hat, in der Öffentlichkeit ebenso wie in der Wissenschaft selbst.

So bleibt zum Beispiel bis heute unklar, ob die in „Nature Communication“ berechnete Infektionssterblichkeit für Gangelt ein Studienartefakt ist. Trotz aller Kritik ist Streeck zudem als öffentlicher Experte mitnichten verschwunden, Reisin bemüht hier fragwürdige Omnipotenzphantasien mit Blick auf die Gatekeeping-Macht von Wissenschaftsjournalist:innen. Aber in der Tat ist die Bedeutung Streecks als Forschender für viele Fragen rund um den Themenkomplex Corona aus guten Gründen geringer geworden als zu Beginn. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass Hendrik Streeck seine Gangelt-Studie durch die PR-Agentur StoryMachine begleiten ließ – und die ersten Ergebnisse noch vor Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Preprint-Papers bei einer Pressekonferenz des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet präsentierte. Es waren übrigens Wissenschaftsjournalist:innen, die damals die Kritik an diesem Vorgehen formulierten und Zweifel an den Studienergebnissen begründeten – unter anderem Florian Schumann und Dagny Lüdemann in der Zeit oder Hinnerk Feldwisch-Drentrup auf Medwatch. Wenn aber die Grenzen von Wissenschaft und Politik dermaßen verschwimmen, sollten nicht allein Wissenschaftsjournalist:innen misstrauisch werden – und Aussagen besonders kritisch prüfen.

Wo Kritik am Wissenschaftsjournalismus greift

Wer also im Detail nachschaut, der reibt sich verwundert die Augen über die harschen und undifferenzierten Vorwürfe an die gesamte Branche der Wissenschaftsjournalist:innen. Ist also alles falsch, was Reisin kritisch über den Wissenschaftsjournalismus schreibt? Natürlich nicht. Die Kritik an der desaströsen Datenlage zur wichtigen Soziodemographie der Pandemie hätte im Wissenschaftsjournalismus früher thematisiert werden können. Der Umgang des professionellen Wissenschaftsjournalismus mit den Geistes- und Sozialwissenschaften bleibt ein Stiefkind, vertiefende Recherchen zu den Schwachstellen der Pandemiepolitik bleiben ein Desiderat.

Aber die Reisinsche Hauptthese, dass Deutschland durch den Gatekeeper Wissenschaftsjournalismus einseitig oder gar falsch orientiert wurde, entbehrt jeder Grundlage – ganz im Gegenteil. Angesichts von bisher fast 90.000 Todesfällen nach Corona-Infektionen, trotz aller ergriffenen Maßnahmen, die Schlimmeres verhütet haben, schließen wir uns der Einschätzung an, die Volker Stollorz in der ZEIT geäußert hat:

„Am Ende empfinde ich es als Niederlage, dass es den vielen gewissenhaft arbeitenden Wissenschaftsjournalisten in Deutschland und den Forschenden im Herbst nicht länger gelungen ist, ihrem Publikum den breiten fachlichen Konsens über die drohende winterliche Welle klarzumachen. Zu übermächtig waren in vielen Medien die Reflexe, jede Einschätzung aus der Wissenschaft mit einer Gegenposition zu kontrastieren und ungeprüfte Forschungsergebnisse aus Einzelstudien uneingeordnet zu vermelden, sodass sie Zweifel an dem weckten, was längst wissenschaftlicher Konsens war.“

Metas Woche: Best Practice Marktfinanzierung: Mediapart / elDiario.es

Hallo alle,

anbei senden wir euch endlich mal wieder ein paar interessante Links – aber zunächst noch einen ganz aktuellenSeminarhinweis: HEUTE (4.2.) Das französische Portal Mediapart und das spanische El Diario sind zwei junge, sehr erfolgreiche Medienneugründungen aus Europa. Wir haben die Macher zu einer Lecture eingeladen, in der sie uns erzählen, was die Faktoren für ihren Erfolg sind. Moderieren wird Holger Wormer, wenn Ihr das live und kostenlos mitverfolgen wollt (Do, 16.30h, ca 1h. Infos und Anmeldung: https://con-gressa.de/form/2021_eur_wijo_konf_02-04/

In einem sehr lesenswerten Beitrag What I’ve learned in nine months of covering the journalism crisis – Columbia Journalism Review (cjr.org) analysiert Lauren Harris, was das Wort “Medienkrise” eigentlich bedeutet. Sie macht dabei auf einen Aspekt aufmerksam, der in der Debatte über die Krise meist nicht prominent auftaucht, aber die eigentliche Krise darstellt: Die sich ausbreitende Dysfunktionalität des Mediensystems. Die öffentliche Debatte sei sehr fixiert auf die Frage, wie viele Medienhäuser schließen, wie viele Kolleg:innen entlassen werden. Doch diese Indikatoren erfassen nicht, was eigentlich passiert, nämlich dass das bestehende Mediensystem seine Fähigkeit verliert, guten Journalismus zu produzieren, weil Leute fehlen, Ressourcen fehlen, Redaktionsstrukturen wegbrechen, Know how verschwindet. Schaut man hingegen nur auf die Beschäftigtenzahlen, könnte man bei sehr positiver Lesart auch den Eindruck gewinnen, das Mediensystem wechsele unter Schmerzen nur den Aggregatzustand, quasi von fest zu flüssig: Hier verschwindet viel, aber dort entsteht auch neues. Aber Harris meint, was ich vollständig teile, dass das Neue vielerorts „verkrüppelt“ zur Welt kommt, es also die Dysfunktionalitäten nicht behebt, sondern sich quasi in der Dysfunktionalität einen Markt sucht. So durchläuft der Qualitätsjournalismus eine Metamorphose, an deren Ende man ihn nicht mehr erkennt, obwohl wir das, was da entsteht, weiter Journalismus nennen.

In UK werden 2021 zwei Neue Nachrichtensender an den Start gehen. Der Guardian bezeichnet sie als als „Fox News-style TV“ und als „anti-impartiality news channels“. Die Betreiber betrachten ihr Investement hingegen als „adding plurality to UK media“ GB news and impartiality: Channel counters Fox News jibe – Press Gazette

Die New York Times hat eine geradezu dystopische Abrechnung mit den sozialen Medien veröffentlicht, verfasst von Shoshana Zuboff (professor emeritus at Harvard Business School) Opinion | Facebook and the Surveillance Society: The Other Coup – The New York Times (nytimes.com) Der Essay fächert ziemlich eindrucksvoll auf, wie demokratiebedrohend und gesellschaftszersetzend die Entwicklung der sozialen Medien in den USA ist. Für Zuboff verdichtet sich die Macht von Facebook und Co zum Bild eines Flächenbrandes, dem am Ende das demokratische Gemeinwesen selbst zum Opfer fallen kann. Der Trumpismus mit seinen fast 80 Mio Wähler:innen war das Fanal, die Zerschlagung der sozialen Mediengiganten ist laut Zuboff eine zentrale Antwort. Gelingt das nicht, riskieren wir mehr als nur irgendwann wieder weitere vier Jahre mit irgendwem im Trump-Stil. Das sei ein Ritt auf Messers Schneide. Passend dazu: Das Wall Street Journal berichtet von einer internen Studie, derzufolge Facebook weiß, dass 70 Prozent der 100 aktivsten Facebook-Gruppen mit politischem Schwerpunkt „were considered  non-recommendable for issues such as hate, misinformation, bullying and harassment“ Facebook Knew Calls for Violence Plagued ‘Groups,’ Now Plans Overhaul – WSJ

Die österreichische Regierung unterstützt die digitale Transformation der Medienbranche in diesem Jahr mit 34 Mio €. An den Förderkriterien und Zielgruppen gibt es aber Kritik, berichtet der Standard: 34 Millionen Digitalförderung ohne Digitalmedien: Erste Reaktionen auf Gesetzesentwurf – Medienförderung: Presseförderung – derStandard.at › Etat

So viel für heute. Schickt gern interessante Fundstücke an die Redaktion unter:  wpk@wpk.org

Viele Grüße für die Meta-Redaktion, Nicola

 

Warum die Bundespresseförderung ihre Ziele verfehlen wird – und wie es besser gehen könnte

von Christopher Buschow

2021 ist das Jahr, in dem die öffentliche Hand in Deutschland erstmals substanzielle Summen in die direkte finanzielle Förderung des privatwirtschaftlich organisierten Journalismus investieren wird. Diese Bundespresseförderung ist ein Novum.

180 Mio. Euro sind noch dieses Jahr für die „Förderung der digitalen Transformation des Verlagswesens“ einkalkuliert, wie eine vierseitige Konzeptskizze des federführenden Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) erläutert. Geplant ist demnach explizit eine „Innovationsförderung“ (S. 2) mit dem Ziel, zum „Erhalt der Medienvielfalt und -verbreitung in Deutschland sowie zur Stärkung des Journalismus und darin tätiger Medienschaffender für die Unterstützung des dringend gebotenen Transformationsprozesses“ (S. 1) beizutragen.

Die veranschlagten Mittel sind auch im europäischen Vergleich substanziell. In den Nachbarländern, von denen viele auf eine längere Tradition der Medienförderung zurückblicken, lagen die jährlichen Ausgaben für direkte Projektförderung journalistischer Innovationen vor der COVID-19-Pandemie zwischen 0,75 Mio. Euro (Niederlande) und 3,4 Mio. Euro (Schweden). Die Bruttoinlandsausgaben der Bundesrepublik Deutschland für die Unterstützung von Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten in Unternehmen aller Wirtschaftszweige betrugen im Jahr 2017 ca. 2,2 Mrd. Euro.

Mit 180 Mio. Euro ließe sich also durchaus eine Menge für den Journalismus erreichen. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass die Bundespresseförderung ihre selbstgesteckten Ziele verfehlen wird. Im Jahr 2021 entscheidet sich, ob die öffentliche Hand in Deutschland unter dem progressiv anmutenden Etikett der „Innovationsförderung“ eine kurzzeitige finanzielle Bezuschussung einzelner Mediengattungen betreibt, deren Geschäft zweifelsohne von der COVID-19-Pandemie negativ betroffen ist. Oder aber, ob der Staat mittels einer systematischen Innovationspolitik tatsächlich denjenigen Projekten auf die Beine hilft, die das größte Potenzial haben, den Journalismus (unabhängig von Mediengattungen und Unternehmensformen) in die Zukunft zu tragen. Auch wenn die endgültige Förderrichtlinie noch nicht veröffentlicht ist, sieht es bislang nach Ersterem aus – und damit nach einer „vertanen Chance“.

Was zu kritisieren ist und wie es besser gehen könnte, skizziert dieser Beitrag, der auf eigener Forschung und einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Förderkonzept beruht.

Entstehungshintergrund

Dass die Bundespresseförderung im Sommer 2020 gewissermaßen über Nacht in den zweiten Nachtragshaushalt des Deutschen Bundestags gelangte, war erstaunlich. Der Gesetzgeber hat die Ziele und Vergabekriterien der Förderung weitgehend unbestimmt gelassen. Eine parlamentarische Debatte in Ausschüssen oder im Bundestag fand nicht statt, obwohl der Einstieg in die direkte Presseförderung einen einschneidenden medienpolitischen Richtungswechsel darstellt. Schon der Entstehungshintergrund der Bundespresseförderung ist keine Sternstunde der deutschen Medienpolitik.

In der Ausarbeitung des Förderkonzepts vertraute das BMWi, so zeigt eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag , überwiegend auf den Rat von Lobbyisten und Verbänden. Wissenschaftliche Expertise oder Erfahrungswerte aus anderen europäischen Ländern wurden offenkundig nicht berücksichtigt. Insofern verwundert es nicht, dass sowohl das geplante Vergabeverfahren wie auch die grundlegende Programmatik der Bundespresseförderung kaum den Anforderungen an eine wirkungsvolle, systematische Innovationspolitik für den Journalismus entsprechen.

Bislang ist geplant, finanzielle Zuschüsse für noch nicht begonnene Innovationsprojekte zur „digitalen Transformation“ gedruckter Medien der drei Gattungen Abonnementzeitungen, Abonnementzeitschriften und Anzeigenblätter auszuschütten, wobei der redaktionelle Anteil einer Publikation mindestens 30 Prozent des Gesamtumfangs ausmachen muss. Die jeweils bereitgestellten Mittel pro Medium sollen sich nach der derzeitigen Druckauflage des Angebots richten.

Damit oszilliert die vorgelegte Förderlinie zwischen zwei Zieldimensionen: Einerseits dem Ziel, den etablierten Medien mit Ausgangspunkt in der alten Print-Welt, welche nach wie vor einen großen Teil der journalistischen Arbeit in Deutschland ermöglichen, kurzfristig finanzielle Hilfe zukommen zu lassen, um die negativen Auswirkungen der aktuellen Krise abzufedern. Andererseits dem Ziel, Impulse für Innovationen in der Branche zu setzen, um auf diesem Wege die Transformation des Journalismus in eine tragfähige digitale Zukunft zu unterstützen.

In ihrer Inkonsistenz verfehlt die Bundespresseförderung indes beide Ziele: Sie ist weder eine ernstzunehmende Subvention der traditionellen Presseunternehmen, deren Bezuschussung anhand von Qualitätskriterien durchaus gerechtfertigt sein kann, noch eine kluge Innovationsförderung der aussichtsreichsten Projekte, die den Journalismus (unabhängig von konventionellen Mediengattungen und Unternehmensformen) in die Zukunft tragen könnten.

Fehlanreize vorprogrammiert

Die Bundespresseförderung beabsichtigt die Vergabe der Fördermittel an den Anteil gedruckter „Auflage (d.h. die Zahl der aktuell (physisch) zugestellten Exemplare)“ (S. 3) zu knüpfen, den ein Förderempfänger am Gesamtmarkt hält. Zweifelsohne vermeidet ein solcher Vergabemechanismus komplizierte Entscheidungssituationen und verlagert die Allokation der Mittel auf scheinbar „objektive“ (S. 3) Metriken. Von einem „neutralen Verteilungsmaßstab“ (S. 3), wie das BMWi schreibt, kann derweil keine Rede sein: Erstens fördert ein solches Vergabeverfahren überproportional jene Medien, die ohnehin noch hohe Auflagen haben und denen es vielleicht nicht einmal wirtschaftlich schlecht geht – ganz nach dem Prinzip: „Wer hat, dem wird gegeben“. Zweitens werden womöglich gerade diejenigen begünstigt, die in den letzten Jahren zurückhaltend in die Digitalisierung investiert und eher ihre Druckauflage (künstlich) hochgehalten haben, etwa über Lesezirkel, Bordexemplare oder Freistücke. Kurz gesagt: Anstelle von „Medienvielfalt“ (S. 1) wird über diesen Mechanismus Medienkonzentration befördert.

Die Fördermittel sollen als „nicht rückzahlbarer Zuschuss für künftige Investitionen in die digitale Transformation“ (S. 2) zu „maximal 45 Prozent der Investitionssumme“ (S. 4) gewährt werden. Die Definition dessen, was laut BMWi unter den Sammelbegriff „digitale Transformation“ fällt, ist ausgesprochen weit gefasst. Aus wissenschaftlicher Sicht ist eine solche Offenheit für verschiedene Arten und Intensitäten von Neuartigkeit auch sinnvoll: Ein Wesensmerkmal der Innovation ist es schließlich, dass sie sich oftmals nicht in althergebrachte Kategorien einordnen lässt. Offenheit für unterschiedliche Innovationsfelder und -intensitäten wird jedoch dann zum Problem, wenn die Fördermittel explizit nicht auf die aussichtsreichsten Projekte allokiert werden, sondern stattdessen alle Antragsberechtigten einen „Schluck aus der staatlichen Pulle“ erhalten. Da alles, was nur irgendwie unter Digitalisierung oder Innovation fallen kann, nicht nur antragsberechtigt ist, sondern im Grunde genommen automatisch zur Förderung gelangt, dürfte jeder Verlag auch ein passendes Projekt finden.

Frank Lobigs, Professor für Medienökonomie an der TU Dortmund, erwartet, dass aus dieser nicht-selektiven, nicht-wettbewerblichen Förderung Mitnahmeeffekte resultieren: Die Verlage werden mit dem Geld vorrangig die Dinge finanzieren lassen, die ohnehin bereits geplant waren – ob wirklich Neuartiges angestoßen wird, ist fragwürdig. Der skizzierte Fördermechanismus legt nahe, dass das BMWi die ursprünglich geplante Zustellförderung für die Presse zu einer Innovationsförderung umetikettiert zu haben scheint.

In Ermangelung eines selektiven, wettbewerblichen Förderverfahrens, das versucht die vielversprechendsten Projekte zu identifizieren und zu unterstützen, entsteht ein weiterer, folgenschwerer Fehlanreiz: Das geplante Vergabeverfahren ermutigt die Verlage offenbar, den „dringend gebotenen Transformationsprozess“ (S. 3) als Abkehr vom eigentlich förderungswürdigen journalistischen Kerngeschäft zu gestalten. Denn sofern unter „digitaler Markterschließung“ (S. 2) auch der „Aufbau von Online-Shops, Rubrikenportalen und Apps“ (S. 2) gefördert wird, entsteht kein Anreiz, in kostspieligen Journalismus zu investieren. Im Gegenteil: Die Bundespresseförderung ermuntert die Verlage dann vielmehr darin, ihren Fokus gerade auf diese kerngeschäftsfremden Felder zu verlagern – finanziert mitunter sogar ihren strategischen Rückzug aus dem Journalismus. Denn im Gegensatz zur klassischen Tageszeitung sind Journalismus und Rubrikenanzeigen in digitalen Medien nicht mehr notwendigerweise verkoppelt. Dafür ist ein Unternehmen wie Axel Springer das beste Beispiel.

Verfehlte Programmatik

Die bisherigen Kritikpunkte betonen vorrangig handwerkliche Probleme der Förderarchitektur. Sie könnten – bis zu einem gewissen Grad – durch Neujustierung der Vergabeverfahren und Anreizstruktur korrigiert werden. Wesentlich gravierender sind hingegen die Defizite, die in der medienpolitischen Programmatik der Bundespresseförderung begründet liegen.

In der Förderskizze heißt es: „Eine Privilegierung einzelner Verlage im Rahmen der staatlichen Förderung muss verhindert werden“ (S. 3). Dass die Bundespresseförderung exakt auf einer solchen Privilegierung beruht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Eine „diskriminierungsfreie Förderung“ (S. 3) ist jedenfalls nicht erkennbar. Indem die Fördermittel allein für die anachronistischen Mediengattungen „Abonnementzeitungen, -zeitschriften und Anzeigenblätter“ (S. 1) bestimmt sind, werden historisch gewachsene Pfadabhängigkeiten einer medienpolitischen Regulierungsarchitektur fortgeschrieben, die die Welt im Wesentlichen in Print- und Rundfunkmedien aufteilt. Dabei lösen sich diese klassischen Mediengattungen im Zuge von Konvergenzprozessen mehr und mehr auf: Welche Zeitschrift hat heute kein digitales Angebot, welche Tageszeitung keinen Facebook- oder Instagram-Kanal? Ein Festhalten an Mediengattungen ist auch deshalb nicht sinnvoll, weil ein Vertriebsweg nicht automatisch mit journalistischer Qualität einhergeht.

Mit ihrer Programmatik ignoriert die Förderlinie die in den letzten Jahren gewachsene, ebenso kleinteilige wie vielfältige Landschaft des digitalen Journalismus in Deutschland. Entscheidende innovationsbetreibende Akteure bleiben außen vor, so etwa neue „Digitalpublisher“ und Start-ups wie Krautreporter und Perspective Daily, die stark auf Membership-Modelle setzen, gemeinwohlorientierte, häufig stiftungsfinanzierte Non-Profit-Gründungen wie CORRECTIV und Hostwriter, aber auch Verbünde, Netzwerke und Zusammenschlüsse verschiedener Innovatoren. Dass tradierte Kategorien eines vordigitalen Zeitalters dabei nicht den Förderkorridor vorgeben dürfen, unterstreicht schon die jüngere Entstehung von Organisationsformen, die neuartige Funktionen im und für den Journalismus übernehmen: Beispielsweise das Science Media Center Germany, ein intermediärer Dienstleister für den Journalismus über Wissenschaft, oder RiffReporter, eine Gründungsinfrastruktur für Journalist*innen. Keineswegs müssen all die vielfältigen Kontexte, in denen Zukunft des Journalismus (mit-)entwickelt wird, gewinnorientiert sein. Die Bundespresseförderung sollte deshalb auch solchen Organisationen eine Anschubfinanzierung ermöglichen, die journalistische Innovation ohne direkte Gewinnerzielungsabsicht betreiben.

Wenn es der Bundespresseförderung darum geht, die größtmögliche „Stärkung des Journalismus und darin tätiger Medienschaffender“ (S. 2) zu erreichen, sollte sie am journalistischen Charakter von Inhalten und ihrer jeweiligen Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung anknüpfen. Andere europäische Länder wie Schweden oder Österreichs Hauptstadt Wien haben erkannt, dass es in der Medienförderung nicht darum gehen kann, all diejenigen zu bezuschussen, die Papier bedrucken, sondern schwerpunktmäßig dort anzusetzen ist, wo mit qualitativ hochwertigem Journalismus zum Funktionieren der Demokratie beigetragen wird. Diese Länder haben den (zugegebenermaßen komplizierteren) Weg einer gattungsunabhängigen, konvergenten Medienförderung eingeschlagen, orientiert an journalistischen Mindeststandards und an Qualitätskriterien.

Mit dem deutschen Konzept ist hingegen nicht einmal versucht worden, eine Diskussion darüber zu führen, welcher Journalismus als gesellschaftlich unterstützenswert gelten kann. Das BMWi hat in der Förderskizze genau ein Qualitätskriterium festgeschrieben – und noch dazu ein ausgesprochen schwaches: Der (bislang nicht näher definierte) „redaktionelle Anteil“ (S. 2) einer Publikation muss mindestens 30 Prozent des Gesamtumfangs ausmachen, damit eine Förderung möglich ist. Die Fraktionen der Grünen / Bündnis 90 und Die Linke im Bundestag wie auch die Gewerkschaft ver.di hatten vorgeschlagen, die Förderung stärker an den Nachweis von Bedürftigkeit zu knüpfen. Auch Medienjournalist Steffen Grimmberg schrieb in der taz: „…ob es den Zeitungen und welchen Zeitungen es wirklich schlecht geht, weiß niemand außer den Presse-Pokerfaces selbst. Amtliche Zahlen gibt es seit über 20 Jahren nicht mehr…“. Das vorgelegte Konzept sieht nicht vor, dass die Verlage eine solche Transparenz herstellen müssten.

Gegen journalistische Mindeststandards und Qualitätskriterien in der Medienförderung wird oftmals eingewandt, dass sie die Autonomie und Staatsferne des Journalismus untergraben könnten. So sind beispielsweise die deutschen Presseverlage und ihre Verbände regelmäßig der Auffassung, dass jede Form von selektiver, wettbewerblich organisierter Förderung automatisch die journalistische Unabhängigkeit in Zweifel ziehe. BDZV-Präsident Mathias Döpfner sprach von einer „roten Linie“, wenn der Staat redaktionelle Leistungen direkt oder indirekt fördere. Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger hat gefordert: „Jeder Verteilschlüssel muss neutral und nicht-selektiv sein. Er darf keine redaktionellen Kriterien enthalten, nicht nach Titeln, Gattung, Verlag oder etwa bestimmten Projekten etc. diskriminieren“. Hier wird ein pauschales Totschlagargument gegen anderenorts bewährte Förderkonzepte ins Feld geführt.

 

Wie es besser gehen könnte

Forscht zu Innovationen im Journalismus: Christopher Buschow. Foto: Matthias Eckert

Es steht allerdings zu erwarten, dass auch die Medienförderung in Deutschland auf kurz oder lang nicht um die Diskussion von Qualitätskriterien herumkommen wird. Dabei ist dem BMWi zuzustimmen, dass „[d]ie geplante Innovationsförderung (…) sicherstellen [muss], dass die Unabhängigkeit der Redaktionen gänzlich unberührt bleibt“ (S. 2). Sowohl die rezente Journalismusforschung als auch die Erfahrungen der europäischen Länder mit einer längeren Fördertradition zeigen aber, dass deshalb nicht zwingend auf selektive, wettbewerbliche Förderverfahren verzichtet werden muss. Im Gegenteil: Manuel Puppis, Professor für Medienstrukturen und Governance an der Universität Fribourg in der Schweiz, hat darauf hingewiesen, dass die skandinavischen Länder, in denen eine solche Art von Förderung seit längerem betrieben wird, in Pressefreiheit-Rankings regelmäßig auf den vorderen Plätzen positioniert sind. In Deutschland wird es nicht genügen, die Abwickelung der Förderung einem „Projektträger“ (S. 3) oder dem „Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle“ (S. 4) zu übertragen. Es bedarf vielmehr einer politik- oder staatsfern organisierten Governance-Struktur, an die diese zentrale Aufgabe vertrauensvoll delegiert werden kann. Ihre Konstruktionsmöglichkeiten sind vielfältiger als das BMWi in Rechnung stellt.

Statt die Förderentscheidungen an das vermeintlich neutrale, unterkomplexe Kriterium der Druckauflage zu knüpfen, könnten pluralistisch zusammengestellte Gremien – analog zu öffentlich-rechtlichen Rundfunkräten und Landesmedienanstalten – oder staatsfern besetzte, weisungsunabhängige Fachjurys von Expert*innen über den Innovationsgrad der eingereichten Projekte und die Förderung entscheiden. Expert*innen-Jurys finden u.a. bei der dänischen Förderlinie „Innovationspuljen“ und bei der Wiener Medieninitiative Anwendung. Ihre Ausgestaltung könnte auf Grundlage eines Vorschlags von Holger Wormer und Maria Latos (TU Dortmund) weiterentwickelt werden: Sie skizzieren eine selbstverwaltete Förderagentur, die die Governance-Struktur der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf den Journalismus überträgt. Begutachtung und Förderentscheidungen würden hier nach dem Vorbild der Drittmittelfinanzierung allein durch Fachkolleg*innen aus der journalistischen Profession erfolgen. Nutzerseitig vergebene (Innovations-)Gutscheine wären schließlich eine Form der öffentlichen Förderung, die gänzlich ohne staatlich initiierte Entscheidungsgremien auskäme. Auf das „private media vouchers system“ hat die Ökonomin Julia Cagé (Sciences Po Paris) in ihrem Vortrag „Saving the Media“ in der virtuellen Konferenzserie der „Science Journalism in the Digital Age“ aufmerksam gemacht. Cagé und Kollegen schlagen ein Modell vor, das die finanzielle Bezuschussung von Medien an die Präferenzen der Konsument*innen knüpft. Die Bürger*innen würden dann im Rahmen ihrer jährlichen Steuererklärung darüber mitentscheiden, welchem (förderfähigen) Medienangebot sie ihren Gutschein – und dadurch eine finanzielle Unterstützung beispielsweise für Innovationsentwicklung – zukommen lassen wollen.

Keines der Governance-Modelle ist unumstritten und ihre jeweiligen Stärken und Grenzen sind noch nicht hinreichend erprobt. Aufgabe einer zukunftsgewandten Journalismusforschung wäre es deshalb, hier mit Forschung und Evaluation anzusetzen.

Innovationsförderung allein wird nur eine Teillösung sein für die große Bandbreite an Herausforderungen, vor denen sich der Journalismus gestellt sieht. Deshalb bedarf es Diskussionen auch über andere Formen der staatlichen Unterstützung, insbesondere im Regional- und Lokaljournalismus. Das Förderkonzept des BMWi allerdings konzipiert schon Innovationsförderung zu halbherzig und inkonsistent, als dass es die selbst gesetzten Ziele erreichen könnte. Das ist umso problematischer, da der SPD-Medienpolitiker Martin Rabanus darauf hingewiesen hat, dass in absehbarer Zeit keine weiteren Mittel in ähnlicher Höhe zur Verfügung gestellt werden könnten. Insofern wäre es wahrlich eine vertane Chance, die Bundespresseförderung nicht zum besten Wohle des Journalismus in Deutschland und also grundsätzlich anders auszugestalten.

Metas Woche: Happy new year?

Hallo liebe Kollegen,

ein kurzes Lebenszeichen von der Meta-Redaktion! Ja, es gibt uns noch. Doch noch immer haben wir kaum Zeit, denn die Pandemie hält uns – wie auch euch – weiter in Atem. Hinweisen möchten wir aber auf zwei Texte von Volker Stollorz, der sich genau über diesen Stress, den wir gerade haben, seine Gedanken gemacht hat:

Systemrelevant: Wie reden wir über Wissenschaft? Wann wird sie politisiert? Ein Rückblick auf das von Corona geprägte Medien-Jahr, die Reflexion findet ihr hier. Und was daraus folgt, beschreibt Volker hier.

Auch das Reuters Institute hat sich derartige Fragen gestellt: Our podcast: how 2020 changed journalism, und zuletzt noch der Hinweis zu einem Gastbeitrag in der Ärzte Zeitung von Dagmar Röhrlich. Sie schreibt:

In Zeiten von Corona finden wissenschaftliche Debatten in den Massenmedien statt. Virologen werden zu Medienstars: von den einen verehrt, von den anderen gehasst. Wichtiger denn je ist, dass Journalisten vermeintliche Erkenntnisse kritisch hinterfragen und einordnen. Doch das kostet Geld.

Eine anregende Lektüre! Für die Meta-Redaktion grüßt, Nicola

 

 

 

Debattenbeitrag zur #FactoryWisskomm: Wissenschaftsjournalismus und gemeinwohlorientierte Kommunikation stärken

Dass das Jahr 2020 ein wichtiges Jahr für die Wissenschaftskommunikation in Deutschland werden sollte stand bereits im Vorjahr fest. Pünktlich zum 20. Jubiläum des Memorandums zu “Public Understanding of Science and Humanities” (PUSH) – dem Startschuss für die professionelle Wissenschaftskommunikation in Deutschland – war das Thema auf die Agenda des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geraten. Daran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert. Ganz im Gegenteil, sie hat die Wissenschaftskommunikation noch stärker in den Fokus des öffentlichen und politischen Interesses gerückt und wie ein Brennglas, sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen aufgedeckt.

Nun steht mit der vom BMBF initiierten #FactoryWisskomm ein Prozess an, der richtungsweisend für die Zukunft der Wissenschaftskommunikation sein könnte. Zumindest dann, wenn die involvierten Akteur*innen sich nicht in kleinteiligen Diskursen verlieren, sondern gemeinsam an den großen Fragen und Herausforderungen arbeiten, die es zu beantworten gilt: Welche Art der Wissenschaftskommunikation wollen wir in Zukunft in Deutschland haben? Wie kann es gelingen, diese zu stärken? Und welche Rolle kommt dem Wissenschaftsjournalismus dabei zu? Das anzeigenbasierte Geschäftsmodell des Journalismus ist generell und nachhaltig beschädigt – dessen Zukunft wird maßgeblich davon abhängen, ob sich neue Formen der Finanzierung für wissenschaftsjournalistische Qualitätsinhalte finden. Es ist uneingeschränkt zu begrüßen, dass das BMBF auch diese Frage im Rahmen des #FactoryWisskomm-Prozesses aufgreifen wird. Wenn das Ziel des Prozesses ist, Weichen zu stellen für die künftig bestmögliche Information der Öffentlichkeit bei Fragen mit Bezug zur Wissenschaft, müssen Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus gleichsam in den Blick genommen werden.

Wissenschaftsjournalismus: Bedeutung anerkannt

Insgesamt hat die Wissenschaftskommunikation in den letzten Jahren zunehmend Ressourcen zugeschrieben bekommen. Von diesen Ressourcen wurden Kommunikationsabteilungen etabliert, neue Formate erdacht und umgesetzt sowie  die Wissenschaftskommunikation insgesamt professionalisiert. Dabei wurde jedoch selten darauf geachtet, ob die Zielsetzung der Kommunikationsaktivitäten gemeinwohlorientiert war oder vor allem reputationsfördernd. Es ist aber eben jene Wissenschaftskommunikation, die es zu fördern und zu stärken gilt. Gemeinwohlorientierte Wissenschaftskommunikation stellt dabei die Bedürfnisse der Zielgruppe in den Fokus und damit die Interessen der Bevölkerung. Im Fokus steht dabei das Bestreben, in der Öffentlichkeit realistische Erwartungen zu wecken, ein informiertes Vertrauen zu bilden, Möglichkeiten und Grenzen der Forschung aufzuzeigen und die Mechanismen der Selbstkritik in der Wissenschaft zu veranschaulichen und nicht ein gutes institutionelles Image zu kreieren. Was den unabhängigen Wissenschaftsjournalismus angeht, wird seine Bedeutung in der bisherigen Diskussion zwar weitgehend anerkannt – ein Finanzierungsmodell indes wurde noch nicht gefunden.

Eine unabhängige, kritische und massenmediale Berichterstattung kann nicht durch Wissenschaftskommunikation ersetzt werden. Sie kann aber von ihr ergänzt, begleitet und vor allem auch angereichert werden. Insbesondere dann, wenn sie nicht vom Interesse der Reputationsstärkung geleitet ist, sondern verstärkt in jenen Räumen agiert, die nicht zu den Aufgaben des Journalismus gehören. So kann Wissenschaftskommunikation beispielsweise direkt an Schulen gehen und dort konkrete Angebote zu wissenschaftlichen Themen schaffen, die den Lehrplan ergänzen. Darüber hinaus kann Wissenschaftskommunikation den Dialog zwischen Bevölkerung und Wissenschaft stärken, Begegnungsräume schaffen und auch Zielgruppen erreichen, die ihre Nachrichten nicht aus den klassischen Medien generieren. Diese Rolle, ebenso wie die Funktion Wissenschaftler*innen auf die Kommunikation vorzubereiten und sie dabei zu unterstützen können sowohl gemeinwohlorientierte als auch institutionelle Wissenschaftskommunikation ausfüllen und damit die Funktionen des Journalismus ergänzen.

Man kann daher sicher nicht pauschal sagen, dass es dem Wissenschaftsjournalismus schadet, wenn in die Wissenschaftskommunikation investiert wird und anders herum. Es schadet letztlich allen, wenn Fördermaßnahmen einfach nur mehr Kommunikation erreichen sollen, statt eine bessere Kommunikation im Sinne der Gesellschaft fördern. In der #FactoryWisskomm muss es deshalb darum gehen, beide Sektoren zu stärken: den Wissenschaftsjournalismus und die Wissenschaftskommunikation. Und zwar so, dass beide ihre jeweilige Funktionen für eine informierte Öffentlichkeit  künftig in bestmöglicher Weise und größtmöglicher Unabhängigkeit ausführen, ohne miteinander in Konkurrenz um Ressourcen und Aufmerksamkeit zu stehen.

RegioScience-Desks könnte ein Lösungsansatz sein

Dafür braucht es neben Ressourcen in beiden Sektoren vor allem innovative Ideen und eine Zukunftsperspektive. Im Wissenschaftsjournalismus – der unter einem höheren finanziellen Druck steht – könnte der Aufbau einer Innovations-Academy ein erster Schritt sein. In dieser sollten insbesondere junge Wissenschaftsjournalist*innen im Umgang mit neuen digitalen Tools geschult werden, die beispielsweise dabei helfen können, den immensen Informationsfluss aus der Wissenschaft zu verarbeiten. Die Academy sollte darüber hinaus auch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, Kommunikationskanäle und Formate befördern.

Ein Bereich, in dem der Niedergang des Wissenschaftsjournalismus besonders stark ausgeprägt ist, ist der Regionaljournalismus – insbesondere im Bereich der Tageszeitungen. Der Aufbau eines gemeinnützigen RegioScience-Desks könnte hier ein Lösungsansatz sein. Regionale Journalist*innen werden durch den Desk mit qualitativ hochwertigen und unabhängigen Informationen aus dem Wissenschaftsbereich versorgt und erhalten Hilfestellung bei der Einordnung unterschiedlicher Forschungsergebnisse.

Sowohl die Innovations-Academy als auch der RegioScience-Desk sind als Projekte allerdings nur mit finanzieller Unterstützung umsetzbar, denn für innovative Konzepte braucht es Förderung. Deshalb gilt es erneut zu prüfen, in welchem Rahmen eine solche Förderung staatlich unterstützt werden könnte, ohne die Unabhängigkeit des Wissenschaftsjournalismus zu gefährden. Schließlich hat die Corona-Pandemie einmal mehr gezeigt, wie wichtig ein unabhängiger und hochwertiger Wissenschaftsjournalismus ist.

Die Pandemie hat darüber hinaus gezeigt, dass viele Ziele der gemeinwohlorientierten Wissenschaftskommunikation noch nicht erreicht sind. So gibt es beispielsweise trotz einiger Bemühungen keinen effektiven Mechanismus gegen Pseudowissenschaftler*innen und Verschwörungsideolog*innen. Bisherigen Bemühungen fehlt es an Reichweite und Schlagkraft. Hier ist eine gemeinsame Anstrengung der Wissenschaft gefordert. Um diese und andere Herausforderungen künftig besser zu meistern, braucht es einen Diskurs über Qualität und Ziele guter Wissenschaftskommunikation sowie auch eine stärkere Evidenzbasierung von Wissenschaftskommunikationsaktivitäten.

Wir wissen derzeit schlicht zu wenig darüber, wie bestimmte Maßnahmen wirken. Das Feld der “Science of Science Communication” – und insbesondere der Austausch dieser mit der Praxis – sollte deshalb weiter gestärkt werden. Dafür braucht es auf Seiten der Praxis einen weiteren Kompetenzaufbau im Bereich Evaluation und Wirkungsmessung.

Auch die bereits vielfach geforderten Anreiz- und Anerkennungsmechanismen für kommunizierende Wissenschaftler*innen sollten Qualität vor Quantität stellen und klar zwischen PR-Maßnahmen und gemeinwohlorientierten Aktivitäten unterscheiden. Die bereits entwickelten Leitlinien für gute Wissenschafts-PR können dabei eine wichtige Orientierung liefern.

#FactoryWisskomm: beide Bereiche fördern

Sowohl im Wissenschaftsjournalismus als auch in der Wissenschaftskommunikation müssen zudem kreative Ansätze, neue Ideen und Experimente weiter gefördert werden. Es gilt hierbei jedoch die Balance zu finden, zwischen der Förderung von Innovationen und der langfristigen und strukturellen Förderung von Projekten, Initiativen und Institutionen, die sich etabliert und ihre Wirksamkeit nachgewiesen haben.

Für eine evidenzbasierte Information der Öffentlichkeit braucht es in Zukunft einen starken Wissenschaftsjournalismus, der in der Lage ist, wissenschaftliche Erkenntnisse einzuordnen, zu hinterfragen und auch innerwissenschaftliche Prozesse und Kontroversen darzustellen. Und es braucht eine Wissenschaftskommunikation, die nicht so sehr die Interessen der einzelnen Institutionen in den Vordergrund stellt, sondern die der Wissenschaft selbst und insbesondere die der Gesellschaft. Beide Bereiche sollte die #FactoryWisskomm durch gezielte und nachhaltige Förderungen stärken, wenn sie nicht den Kritiker*innen recht geben will, die befürchten, die Stärkung der Wissenschaftskommunikation diene vor allem dazu, der Wissenschaft den Aufbau noch größerer Lautsprecher zu finanzieren.

Nicola Kuhrt, Martin Schneider und Markus Weißkopf