Ein Wochenrückblick des Science Media Center, über welche Forschungsergebnisse viele Wissenschaftsjournalisten zeitnah berichten:

Radioaktive Wolke über Osteuropa 2017 ist durch Unfall in russischer Atomanlage verursacht worden (Proceedings of the National Academy of Sciences)

Analysen von 1300 Messwerten ergaben, dass die Wolke aus radioaktivem Ruthenium-106, die 2017 über Osteuropa gemessen worden ist, höchstwahrscheinlich bei einem Unfall in der russischen Atomanlage Majak am Ural freigesetzt worden ist. Für diese Konklusion gibt es gleich mehrere Gründe: Zum einen wird aufgrund der Windrichtung zum Zeitpunkt der Messungen vermutet, die Wolke komme von Osten, also aus Richtung der Anlage. Außerdem passen die gefundenen radioaktiven Substanzen genau zu einem Arbeitsauftrag, welchen die Anlage in Majak damals verfolgte. Sie war dabei, für ein italienisches Forschungsinstitut das Isotop Cer-144 herzustellen. Eine andere plausible Quelle für die gemessene Zusammensetzung der Wolke gibt es nicht. Auch einen Satelliten als Quelle, was Russland vorschlagen hat, schließen die Wissenschaftler*innen aus. Zudem ist die Atomanlage Majak einige Zeit nach dem wahrscheinlichen Unfall vom Auftrag für das italienische Forschungsinstitut zurückgetreten. Sogar über die Ursache des Unfalls können die Wissenschaftler begründet mutmaßen: So sei das Ruthenium sehr jung gewesen. Es stamme also aus jungen Brennstäben. Diese zu verarbeiten, sei deutlich unvorhersehbarer und damit gefährlicher. Zugleich ein weiteres Indiz, welches auf Majak deutet. Denn man hätte mit den riskanteren, jüngeren Brennstäben arbeiten müssen, um den italienischen Auftrag erfüllen zu können.

Die Studie eines internationalen Teams von Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Experten der Universität Hannover und des französischen Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire ist am 26.07.2019 im Fachblatt Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht worden. Mindestens 16 Mal haben deutschsprachige Medien unabhängig voneinander und teils sehr ausführlich über die Studie berichtet. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und der Standard haben eigens einen Studienautor zur Publikation befragt. Der Deutschlandfunk hat ihn zudem interviewt. Unbeteiligte Expert*innen sind nicht zu Wort gekommen. Tenor der Berichterstattung: Die Wolke ist sicherlich russischen Ursprungs gewesen und Russland hat versucht dies – entgegen internationaler Abkommen – zu vertuschen.

Steckbrief

Journal: PNAS

Pressemitteilungen: Ja (von der Fachzeitschrift, vom Forschungsinstitut)

Aufgegriffen von:

  • Die Presse (27.07.2019)
  • N-tv.de (27.07.2019)
  • Salzburger Nachrichten Online (27.07.2019)
  • science.ORF.at (27.07.2019)
  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (28.07.2019)
  • heise online (28.07.2019)
  • Deutschlandfunk Forschung Aktuell (29.07.2019)
  • Die Welt (29.07.2019)
  • dpa: Grenz-Echo (29.07.2019), Neue Osnabrücker Zeitung (29.07.2019), Spiegel
  • Online (29.07.2019)
  • Focus Online (29.07.2019)
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.07.2019)
  • scinexx.de (29.07.2019)
  • Spektrum.de (29.07.2019)
  • Standard Online (29.07.2019)
  • Tagesspiegel Online (29.07.2019)
  • Kosmo.at (31.07.2019)

Studie findet Zusammenhang zwischen Säureblockern und Allergiehäufigkeit (Nature Communications)

Menschen, die Säureblocker eingenommen hatten, benötigten statistisch signifikant etwa doppelt so häufig Medikamente gegen Allergien. Dies ist ein Indiz dafür, dass sie tatsächlich häufiger an Allergien erkrankt sind. Der Befund gilt unabhängig davon, welches Präparat als Säureblocker verwendet worden ist. Zudem ist der Zusammenhang bei Frauen doppelt so stark gewesen wie bei Männern. Für diese Resultate sind Daten von mehr als 8 Millionen Österreicher*innnen vom Zeitraum von 2009 bis 2013 von Wissenschaftler*innen der Medizinischen Universität Wien ausgewertet worden. Aus Datenschutz-Gründen konnten jedoch neben dem Geschlecht und Alter keine weiteren Charakteristika der Patient*innen  untersucht und aus den Analysen herausgerechnet werden. So könnte es weitere Gründe geben, die gleichermaßen die Wahrscheinlichkeit für die Einnahme von Säureblockern als auch für Allergien beeinflussen. Allerdings passt die gefundene Assoziation laut den Wissenschaftler*innen gut zu Resultaten von Tierexperimenten. Die Studie ist am 30.07.2019 im Fachblatt Nature Communications erschienen.

Mindestens acht Mal ist von deutschsprachigen Medien unabhängig voneinander über die Publikation berichtet worden. Im Deutschlandfunk ist eine Studienautorin interviewt worden. Vielfach ist die dpa-Meldung zur Publikation übernommen worden. In dieser Meldung ist ein an der Studie unbeteiligter Experte des Universitätsklinikums Schleswig- Holstein zitiert worden, der sich allgemein zu Säureblockern äußerte. Diese seien sehr gute Medikamente, man solle sie aber nicht vorsorglich und nur solange man sie wirklich benötige einnehmen. Ein weiterer unbeteiligter Experte der US-amerikanischen Uniformed Services University of the Health Services hielt laut der Süddeutschen Zeitung die Ergebnisse für durchaus plausibel, da es viele Hinweise auf einen solchen Zusammenhang gebe. Kritischer gab sich ein unbeteiligter Experte der University of Liverpool. Scinexx.de zufolge ist er der Ansicht, dass definitiv weitere Studien nötig seien, insbesondere da die Forscher*innen nicht alle potentiellen Einflussfaktoren erhoben und herausgerechnet hätten. In einer zweiten Phase der Berichterstattung haben die Ärzte Zeitung und die Pharmazeutische Zeitung die Reaktion der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) auf die Studie dargelegt. Die DGVS hatte die Studie in einer Pressemitteilung scharf kritisiert: Patient*innen würden unnötig verunsichert. Erstens zeige die Studie nicht, dass tatsächlich der Grad der Säurehemmung mit der Allergie korreliert sei, da sich die Zusammenhänge bei unterschiedlich starker Hemmung gleichermaßen zeigten. Zweitens seien Allergien nicht direkt diagnostiziertworden und einige der als Indikator genutzten Medikamente würden auch anderweitig genutzt. Außerdem und drittens hätten die verschiedenen Allergien unterschieden werden müssen. Und schließlich seien die Ergebnisse unsicher, da keine weiteren Charakteristika der Patient*innen erfasst und deren Einflüsse auf Allergien herausgerechnet worden seien.

 

Steckbrief

Journal: Nature Communications

Pressemitteilungen: Nein

Aufgegriffen von:

  • aerzteblatt.de (31.07.2019)
  • Deutschlandfunk Forschung Aktuell (31.07.2019)
  • dpa: Ärzte Zeitung (31.07.2019), Frankfurter Rundschau Online (31.07.2019),
  • Hamburger Abendblatt (31.07.2019), Spiegel Online (31.07.2019), Stern Online
  • (31.07.2019)
  • Pharmazeutische Zeitung Online (31.07.2019)
  • scinexx.de (31.07.2019)
  • Süddeutsche Zeitung Online (31.07.2019)
  • Ärzte Zeitung Online (05.08.2019)
  • Pharmazeutische Zeitung Online (06.08.2019)

Beobachtung vor Ort zeigt: Gletscher schmilzt viel schneller, als die Theorie vorhersagt (Science)

Unterwasser-Sonarvermessungen des in Alaska gelegenen LeConte-Gletschers haben bis zuzwei Größenordnungen höhere Schmelzraten ergeben, als momentane Modelle dies vorhersagen. Laut den Wissenschaftler*innen der US-amerikanischen University of Oregon und der Oregon State University seien diese Modelle bisher noch nie mit Unterwasser-Messungen vor Ort überprüft worden. Denn dafür müsste man sich der Gletscherkante nähern, was sehr gefährlich sei. Bisherige Modelle hätten lediglich richtig eingeschätzt, wie schnell die Gletscher dort auftauten, wo das Schmelzwasser unter ihnen herausfließt. Allerdings mache dieser Bereich nur einen Zehntel bis Hundertstel der Gletscherfront aus. Auf der restlichen Front seien die Schmelzraten vermutlich ähnlich hoch – also zehn bis hundert Mal höher als bisher geschätzt worden sei. Nun müsste anhand von Beobachtungen an weiteren Gletschern überprüft werden, ob die Modelle auch dort die Schmelzprozesse fehlerhaft vorhersagten. Die Wissenschaftler*innen haben ihre Studie am 26.07.2019 im Fachblatt Science veröffentlicht.

Mindestens sechs Mal ist von Medien in deutscher Sprache unabhängig voneinander über die Studie berichtet worden. Dabei sind fünf Expert*innen zu Wort gekommen, die nicht an der Studie beteiligt gewesen sind. In der dpa-Meldung ist ein Experte des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zitiert worden. Ihm zufolge könnten die neuen Messungen helfen, um bestehende Klimamodelle zu verbessern. Es müsse noch abgewartet werden, inwiefern die Ergebnisse auf andere Gletscher übertragbar seien. Der Tagesspiegel befragte zur Studie einen Experten des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven. Demnach müssten nun weitere Gletscher beobachtet und Theorien angepasst werden. Sonst würde falsch einschätzen, wie die Gletscher auf den Klimawandel reagierten. Vom National Geographic sind gleich drei unbeteiligte Expert*innen wiedergegeben worden. Laut einer Expertin der University of Colorado Boulder weichten die entdeckten Schmelzprozesse dramatisch von bisherigen Annahmen ab. Die Einschätzung einer Expertin der Boise State University war, dass Gletscher deutlich sensibler auf Veränderungen im Meer reagierten, als gedacht. Beeindruckt zeigte sich ein Experte der University of California, Irvine. Es sei schwierig, die Vermessung der gesamten Gletscherwand innerhalb eines Sommers durchzuführen.

 

Steckbrief

Journal: Science

Pressemitteilungen: Ja (von der Fachzeitschrift, vom Forschungsinstitut, vom weiteren Forschungsinstitut)

Aufgegriffen von:

  • dpa: Focus Online (29.07.2019), Frankfurter Rundschau Online (29.07.2019),
  • Redaktionsnetzwerk Deutschland: Leipziger Volkszeitung (29.07.2019)
  • wissenschaft.de (25.07.2019)
  • Deutschlandfunk Forschung Aktuell (26.07.2019)
  • Tagesspiegel Online (26.07.2019)
  • Deuschlandfunk Forschung Aktuell (30.07.2019)
  • NationalGeographic.de (08.08.2019)

 

Die Vorhersage der Auswahl von Themen seitens der Journalisten gleicht dem täglichen Blick in die Glaskugel. Haben Journalisten das entsprechende Fachjournal auf dem Schirm? Werden sie das Thema aufgreifen und berichten? Wenn ja: mit welchem Dreh? Wenn nein: Kann es sein, dass wichtige entscheidungsrelevante Forschungsergebnisse, über die berichtet werden sollte, übersehen werden? Im Science Media Newsreel dokumentiert das Team des SMC einmal pro Woche rückblickend die kongruenten Wissenschaftsthemen, die aus namentlich genannten Fachzeitschriften in Presseerzeugnissen und Internetangeboten aufgegriffen wurden. Erwähnt werden nur solche Themen, die bei unserem zugegeben unvollständigen Monitoring in mehr als fünf unterschiedlichen Redaktionen mit textlich nicht identischen Berichten aufgegriffen wurden.

* Protokoll: Hendrik Boldt