Ein Wochenrückblick des Science Media Center, über welche Forschungsergebnisse viele Wissenschaftsjournalisten zeitnah berichten:

 

Blinddarmentfernungen im jungen Alter senken das Risiko für Parkinson (Science Translational Medicine)

Krankheitsdaten von 1,7 Millionen Menschen über mehrere Jahrzehnte hinweg zeigen: Wird der Appendix veriformis (Wurmfortsatz des Blinddarms) im jungen Alter entfernt, sinkt das kumulierte Risiko, später an Parkinson zu erkranken, um 19 Prozent. Für die Landbevölkerung hat die Datenanalyse sogar ein Absinken um 25 Prozent ergeben. Hierfür spielt vermutlich die erhöhte Pestizidexposition eine Rolle, die auf dem Land auch zu höheren Parkinsonraten beiträgt. Die Ergebnisse sind von Wissenschaftler*innen des US-amerikanischen Van Andel Research Institute in Grand Rapids am 31.10.2018 im Fachmagazin Science Translational Medicine veröffentlicht worden.  Aufgetretene Parkinson-Erkrankungen waren zudem bei Menschen ohne Wurmfortsatz durchschnittlich erst in höherem Alter diagnostiziert worden. Dies deutet darauf hin, dass auch der Ausbruch der Krankheit verzögert worden ist. Außerdem hat eine Untersuchung des Wurmfortsatzes ergeben, dass darin auch bei gesunden Menschen pathogene Aggregate des Proteins Alpha-Synuclein vorhanden sind. Dieses Protein ist mit Parkinson assoziiert. Bei Erkrankten reichert es sich in bestimmten Hirnarealen an und führt so vermutlich zum Ausbruch der Krankheit. Die Wissenschaftler*innen vermuten, dass das pathogene Alpha-Synuclein im Wurmfortsatz der Grund für seinen Einfluss auf das Parkinsonrisiko sein könnte. Auf welchem Weg genau er zum Ausbruch der Krankheit beiträgt, ist aber noch unklar.

Mindestens sieben deutschsprachige Medien haben unabhängig voneinander über die Studie berichtet. Das Science Media Center Germany hat zur Studie drei Experten des Uniklinikums Ulm, Klinikums der Universität München (LMU) und des Universitätsklinikums des Saarlandes interviewt. Aus den Interviews haben das aerzteblatt.de, scinexx.de, die Süddeutsche Zeitung und die WELT jeweils mindestens einen Experten zitiert. Die Neue Zürcher Zeitung hat den Experten des Universitätsklinikums Ulm zudem selbst angefragt. Außerdem ist in der dpa-Meldung die Meinung eines Experten des Uniklinikums Marburg zur Studie angeführt worden. Die Experten haben insgesamt den in der Studie gefundenen Effekt auf das Risiko als überraschend hoch eingestuft. Dementsprechend haben sie in ihr einen Grund für weitere Forschung des Zusammenhangs zwischen Blinddarm und Parkinson gesehen.

Steckbrief

Journal: Science Translational Medicine 

Pressemitteilungen: Ja (von der Fachzeitschrift [https://www.eurekalert.org/pub_releases/2018-10/aaft-art102918.php], vom Forschungsinstitut [https://www.eurekalert.org/pub_releases/2018-10/vari-ai102618.php])

Aufgegriffen von:

  • WELT (31.10.2018)
  • aerzteblatt.de (01.11.2018)
  • dpa: Spiegel Online (01.11.2018), Stuttgarter Zeitung (03.11.2018)
  • Neue Zürcher Zeitung Online (01.11.2018)
  • scinexx.de (01.11.2018)
  • Süddeutsche Zeitung Online (01.11.2018)
  • Spektrum.de (02.11.2018)

Präzise Rückenmarkstimulation lässt Querschnittsgelähmte auch im Alltag wieder laufen (Nature, Nature Neuroscience)

Jahrelang hüftabwärts dyskomplett gelähmte Patienten haben mittels zeitlich und räumlich optimierter Elektrostimulation des Rückenmarks und eines fünfmonatigen Trainings wieder laufen gelernt. So haben sie – unterstützt durch die Stimulation – auf dem Laufband bis zu einen Kilometer zurücklegen können. Insbesondere haben sie – im Gegensatz zu anderen Studien – auch ohne Stimulation ihre Beine willentlich an Krücken bewegen können. Dies schreiben Wissenschaftler*innen des Schweizer Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) in zwei Artikeln, die am 31.10.2018 im Fachblatt Nature sowie in Nature Neuroscience publiziert worden sind. Zudem haben die Forscher*innen Stimulatoren konstruiert, die jederzeit von den Patienten selbst aktiviert werden können. Mit zusätzlichen Hilfsmitteln wie Rollatoren können sie sich somit auch im Alltag eigenständig fortbewegen. Das Grundprinzip der Elektrostimulation: Bei dyskomplett gelähmten Patienten gibt es noch einige Nervenverbindungen zwischen dem gelähmten Bereich und dem Gehirn. Elektrische Impulse an die Nerven im gelähmten Körperteil reaktivieren diese. So wird es den Patienten ermöglicht, sie über die verbliebenen Verbindungen vermehrt bewusst anzusteuern. Im Gegensatz zu einem vor kurzem am 24.09.2018 in Nature Medicine veröffentlichten Ansatz (siehe Newsreel no.26), bei welchem die Elektrostimulation in regelmäßigen Abständen alle Nerven im gelähmten Bereich angesteuert hat, haben die Wissenschaftler*innen jetzt zeitlich sowie räumlich begrenzt stimuliert. So haben sie die Nervenimpulse für die jeweiligen Bewegungsabläufe nachgebildet. Die Wissenschaftler*innen halten eine solch begrenzte Stimulation für vorteilhaft, da die Dauerstimulation die Propriozeption (Wahrnehmung von eigener Körperbewegung und -lage) störe. Die optimierte Technik könnte außerdem der Grund für die neurologische Erholung der Patienten sein – ihre Fähigkeit, auch ohne Stimulation die Beine zu bewegen.

In mindestens zehn deutschsprachigen Medien ist – teils ausführlich – über die Studie berichtet worden. Vielfach sind dabei an der Studie unbeteiligte Expert*innen zitiert worden. Das Science Media Center Germany hat drei Experten des Klinikums Bayreuth, des Universitätsklinikums Heidelberg und der Medizinischen Universität Wien zu den Forschungsergebnissen interviewt. Das aerzteblatt, der Deutschlandfunk, die Neue Zürcher Zeitung, der Standard, der Tagesspiegel und Zeit Online haben Aussagen aus diesen Interviews in ihren Artikeln verwandt. Die Experten haben in der Studie einerseits einen relevanten Fortschritt erkannt, andererseits auch betont, dass es bis in den klinischen Alltag noch einige Zeit dauern dürfte. Außerdem ist im Tagesspiegel ein Experte der Berliner Charité und in der Neuen Zürcher Zeitung eine Expertin der Universität von Louisville zitiert worden.

Steckbrief

Journal: Nature, Nature Neuroscience

Pressemitteilungen: Ja (vom Forschungsinstitut)

Aufgegriffen von:

  • Neue Zürcher Zeitung (31.10.2018)
  • Orf.at (31.10.2018)
  • Welt (31.10.2018)
  • aerzteblatt.de (01.11.2018)
  • Der Standard (01.11.2018)
  • Deutschlandfunk (01.11.2018)
  • AFP: t-online.de (02.11.2018)
  • Tagesspiegel (02.11.2018)
  • Zeit Online (02.11.2018)
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung (04.11.2018)

*Protokoll: Hendrik Boldt

 

1Die Vorhersage der Auswahl von Themen seitens der Journalisten gleicht dem täglichen Blick in die Glaskugel. Haben Journalisten das entsprechende Fachjournal auf dem Schirm? Werden sie das Thema aufgreifen und berichten? Wenn ja: mit welchem Dreh? Wenn nein: Kann es sein, dass wichtige entscheidungsrelevante Forschungsergebnisse, über die berichtet werden sollte, übersehen werden? Im Science Media Newsreel dokumentiert das Team des SMC [https://www.sciencemediacenter.de/] einmal pro Woche rückblickend die kongruenten Wissenschaftsthemen, die aus namentlich genannten Fachzeitschriften in Presseerzeugnissen und Internetangeboten aufgegriffen wurden. Erwähnt werden nur solche Themen, die bei unserem zugegeben unvollständigen Monitoring [http://www.meta-magazin.org/2018/04/04/waehlerische-wissenschaftsjournalisten/] in mehr als fünf unterschiedlichen Redaktionen mit textlich nicht identischen Berichten aufgegriffen wurden.