Wegen der „Sensor-Live-Reportage“ kürte das „medium magazin“ ihn zum Wissenschaftsjournalist des Jahres. Wie er aus Versehen das Format erfand und was die großen Fragen dazu sind, schreibt er hier. Ein Making of VON JAKOB VICARI

Aquarium

Photo: CC O/Christopher Chang/www.flickr.com

»Ich schreibe Euch einen Roboter.« Dieser Satz besiegelte mein Schicksal. Was war geschehen? Eine kleine, sympathische Redaktion wollte gern mehr Wissenschaftsjournalismus machen. Darum dieser Nachdenk-Abend im Wohnzimmer des Redaktionsleiters. Es fehlt an Geld, an Personal. Und dann kam ich. Der verhängnisvolle Satz führte dazu, dass ich löten lernte, zwei Programmiersprachen. Der Satz führte dazu, dass ich wenig später vor 200 europäischen Programmverantwortlichen stand, denen ich als Zauberer des Wissenschaftsjournalismus vorgestellt worden war. Auf meinem Schreibtisch begannen sich Platinen zu stapeln, Kabel, die Reste von Lötzinn. Vier Wochen später war ein Programm fertig. Es berichtete von einem wissenschaftlichen Experiment. Als automatischer Live-Blog quasi. Auf einem Steckbrett verband ich einen Mikrocontroller mit ein paar Sensoren.

Jetzt brauchte ich noch ein Experiment. Ich überlegte, warum ich Wissenschaftsjournalist geworden war. Als Kind hatten mich Experimente fasziniert. Ich erinnerte mich an Urzeitkrebse. Und ich wählte das einfachste, vielleicht am häufigsten unternommene biologische Experiment überhaupt: Urzeitkrebse. In wenigen Tagen würden sie schlüpfen, sich vermehren und sterben. Alles Drama mithin für eine gute Geschichte.

Eine Reportage, gesteuert von Sensoren, live erzählt im Netz: Die erste Sensor-Live-Reportage. Sie passt in die Zeit. Der Journalismus steht vor der Herausforderung, über eine komplexer werdende Welt mit niedrigem Personal- und Kostenaufwand zu berichten. Wie lässt sich auf diese Lage technologisch antworten? Das »Internet of Everything« erobert unseren Alltag. Die Dinge um uns herum beginnen, Daten zu sammeln. Ich bin überzeugt: In diesen Daten liegen Geschichten verborgen. Der Journalismus hat zu diesen Daten noch keine Schnittstelle. Auch das ist die Reporter-Box. Herzstück ist die Reporter Box. Sie war einmal eine Frühstücksdose. Jetzt macht sie meinen Job. Ein kleiner Mikroprozessor sammelt die Daten und stellt sie ins Netz. Eine Software baut daraus einen Text.

Was ist der richtige Sensor? Was die richtige Hardware? Der Prozessor ist der Particle Photon, ein vernetzter Verwandter des Arduino. In die alte Frühstücksdose meiner Tochter baute ich die erste Version ein.

Von einer fixen Idee zum Gewinn des Formatfestivals

Einhörner nennt man in manchen Kreisen Journalisten, die auch coden können. Ich fühlte mich an vielen Abenden eher wie ein humpelndes Pony. An einem dieser Abende, an dem ich in meinem Büro saß und nicht weiterkam, reichte ich meine Idee zum Formatfestival des Medieninnovationszentrums Babelsberg ein. Das Formatfestival dient dazu, Prototypen für neue Rundfunkformate zu generieren. Im Jahr zuvor hatte »Follow the Money« gewonnen, die mit Preisen und Lob überhäufte Jagd nach einem Schrottfernseher. Und jetzt also: meine Urzeitkrebse. Aus den Urzeitkrebsen reifte im halben Jahr mit Hilfe vieler Coachings das Format: Die Sensor-Live-Reportage. Der Programmierer Robert Schäfer setzte meine Idee noch einmal in ordentlichen Code um. Der Illustrator Roland Krieger erfand Comic-Urzeit-Helden. An einem Nachmittag im November bestimmte die Jury des Formatfestivals, in der Sendervertreter und Produzenten sitzen, das Format zum Sieger. Damit war aus meiner Schnapsidee ein preisgekröntes Format geworden.

Nein, das ist nicht die Zukunft des Journalismus. Ein Urzeitkrebse-Textroboter wird keinem einzigen Journalisten den Job kosten. Aber sie könnte den vielfach in etablierten Formen erstarrten Journalismus bereichern. Die Sensor-Live-Reportage ist ein Ansatz, neue Technologien mit einer neuen Erzählweise zu kombinieren. Und damit vielleicht auch neue Leser für Wissenschaftsjournalismus zu begeistern. Die Sensor-Live-Reportage ist wiederholbar, ob sie über eine Raumsonde berichtet, über den Vogelzug oder ein schlüpfendes Ei.

Die Sensor-Live-Reportage ist ein Format, das für den Roboterreporter entwickelt wurde. Es soll uns Journalisten nicht abschaffen. Es verändert nur unsere Rolle. Von der ersten Geige, die jeden Abend auf der Bühne steht, werden wir zu Komponisten. Wir legen die Partitur unserer Reportage fest. Bei mir ist sie auf einem großen DIN A2-Blatt notiert, Baustein für Baustein. Der Roboter führt die Sensor-Live-Reportage nur noch auf.

Es gibt dabei mehr unbekannte als bekannte Variablen. Was ich weiß: Die Darstellung meines Roboters, das unmittelbare, dauernde, beobachtende kommt dem Prozess der Wissenschaft näher, als die Verklappung von Journal-News auf Zeitungsseiten. Ich mag diese Vorstellung. Weil ich überzeugt bin, dass Journalismus mehr ist, als Buchstaben in der richtigen Reihenfolge zu Papier zu bringen. Im Frühjahr 2016 soll der erste Durchgang in einem Online-Medium starten. Eine große Frage ist: Wird das Publikum mitlesen. Die andere: Was wollen uns die Urzeitkrebse sagen?


 

Vicari_Portrait CroppedDr. Jakob Vicari arbeitet als freier Wissenschaftsredakteur in Lüneburg und Berlin. Er schreibt für Brand Eins, entwickelte die WIRED Germany mit und sparte früher auf die YPS. www.sensor-live-reportage.de

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