Abgehörte Telefonate sind manchmal wichtige Beweismittel vor Gericht. Ein Projekt vier europäischer Journalisten zeigt nun: Wie zuverlässig Stimmanalysen sind, ist hoch umstritten. Die Geschichte einer grenzübergreifenden Recherche. VON ANNA BEHREND
Die Wissenswerte 2015 war noch nicht vorbei, da wurde das dort vorgestellte Projekt „Hearing Voices“ auf traurige Weise brandaktuell: Französische Ermittler identifizierten in einer mutmaßlichen IS-Audiobotschaft die Stimme des französischstämmigen Islamisten Fabien Clain. In einem „gesegneten Angriff“ hätten „Gläubige, Soldaten des Kalifats (…) die Hauptstadt der Abscheulichkeit und der Perversion ins Visier genommen“, sagt ein Mann in der Botschaft über die Anschläge vom 13. November in Paris. Dass es die Stimme von Claim sein soll, der sich vor einigen Jahren nach Syrien absetzte, werten die Behörden als Indiz dafür, dass die Angriffe von Syrien aus gesteuert wurden.
Wissenschaftlich unzulängliche Gutachten
Doch wie belastbar sind derartige Stimmanalysen? Eben dieser Frage haben für „Hearing Voices“ vier Journalisten aus vier europäischen Ländern fast sieben Monate lang nachgespürt. Das Fazit: Die Gutachterszene ist sich uneinig, wie Sprecher am besten zu identifizieren sind. Während manche auf ein geschultes Gehör setzen, vertrauen andere auf Computeralgorithmen. Immer wieder werden Menschen auf Basis von Gutachten verurteilt, die aus wissenschaftlicher Sicht unzulänglich sind. Europäische Qualitätsstandards gibt es nicht. Rund 20 fragwürdige Fälle aus den vergangenen zwei Jahrzehnten hat das Projekt zu Tage gefördert – kein Massenphänomen also, aber doch eine zweifelhafte Praxis.
Bislang sind drei Veröffentlichungen aus dem Projekt „Hearing Voices“ hervorgegangen, in den nächsten Wochen sollen weitere folgen. Insgesamt sind etwa zehn Geschichten geplant. Der erste deutschsprachige Artikel ist kürzlich im Spiegel erschienen. Die Webseite des Projekts – vorerst nur auf Spanisch verfügbar – soll nach und nach alle recherchierten Fälle auf einer Karte sammeln und erläutern.
Journalisten aus Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland
Keimzelle für das Projekt war die Wissenswerte 2014 in Magdeburg. Dort trafen drei der vier Projekt-Initiatoren zum ersten Mal persönlich zusammen: Der in Barcelona lebende Italiener Michele Catanzaro, Philipp Hummel aus Berlin (beide Physiker und freie Journalisten) sowie Astrid Viciano, Ärztin und seit 2012 freie Journalistin in Paris. Den Anstoß für das Projekt gab Catanzaro, der bereits 2011 über einen Fall berichtet hatte, in dem Sprechererkennung eine problematische Rolle spielte. Er regte an, nach ähnlichen Fällen in anderen europäischen Ländern zu suchen und die wissenschaftlichen Methoden und gesetzlichen Regelungen zu beleuchten. Außerdem holte er die italienische Datenjournalistin und Mikrobiologin Elisabetta Tola ins Team.
„Nichts, was man wegen des Geldes macht“
Die Gruppe warb ein Stipendium der gemeinnützigen Organisation Journalismfund.eu über 7.200 Euro ein. Dafür mussten sich vorab bereits mindestens zwei Medien bereit erklären, die Ergebnisse nach Abschluss der Recherchen zu veröffentlichen.
Das Geld habe die Reisekosten sowie ein Honorar von 1.250 Euro pro Kopf abgedeckt, sagen Hummel und Viciano. Den Arbeitsaufwand schätzt Hummel auf insgesamt zwei Monate in Vollzeit. „Das ist sicher nichts, was man wegen des Geldes macht“, sagt Viciano. Die Honorare für die einzelnen Publikationen verteilen die Projektteilnehmer zu gleichen Teilen untereinander – so ihre Vereinbarung.
Hinweise auf fragwürdige Fälle
Am Anfang der Recherche, so Hummel, stand vor allem die Suche nach Akteuren: Wer hat mit der Sprechererkennung vor Gericht zu tun, wer könnte dazu etwas wissen? So kontaktierten die Journalisten jeweils im Land ihres Wohnortes Staatsanwaltschaften, Berufsverbände, Gerichte, Politiker, Datenschützer und Strafverteidiger. Den Hinweis auf zwei fragwürdige Fälle im deutschsprachigen Raum habe er von einer forensischen Phonetikerin aus Trier bekommen, sagt Hummel: In Österreich wurde ein mutmaßlicher Mörder auf Basis einer fragwürdigen Sprecheranalyse in Haft genommen. In Bayern wurde eine erste Analyse durch ein Gegengutachten in Zweifel gezogen. Beide Geschichten sind im Spiegel-Artikel ausführlich beschrieben.
Für europaübergreifende journalistische Projekte sei auch die Seite der Europäischen Kommission eine gute Anlaufstelle, sagt Viciano. Dort gebe es eine Liste mit den verschiedenen Abteilungen, die helfen würde, sich im „Dschungel der verschiedenen Instanzen“ zurechtzufinden.
Für Hummel war die Recherche Anlass, zum ersten Mal eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz zu stellen. Er fragte beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages an, ob diesem Ausarbeitungen zu forensisch-phonetischen Methoden vorliegen. Als Textvorlage nutzte Hummel dafür die Formulierungen auf der Seite fragdenstaat.de, verschickte seine Anfrage jedoch nicht öffentlich über das Portal, sondern vertraulich als E-Mail, um nicht vorzeitig etwas von der Recherche preiszugeben. Zwar förderte die Anfrage zu Tage, dass zu diesem Thema nichts vorliegt, „aber es ist gut, das mal gemacht zu haben, damit man weiß wie es geht“, sagt Hummel.
Während der Recherche verabredete sich das Team alle vier bis sechs Wochen zur Skype-Konferenz. „Es ist wichtig, immer wieder zusammen in die gleiche Spur zu finden“, sagt Viciano. Dokumente tauschten die Journalisten über die Online-Plattformen Evernote und Google Drive aus. „Mit ganz heißen Dokumenten würde ich das aus Sicherheitsgründen aber nicht machen“, sagt Hummel.
Redigatur in fünf Sprachen
Hilfreich für die Zusammenarbeit sei gewesen, dass jede der Veröffentlichungssprachen Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Englisch von mindestens zwei Teammitgliedern beherrscht wird. So habe immer ein Journalist die Redigatur des anderen übernehmen können. Außerdem habe sich das Team durch die unterschiedlichen Kompetenzen in den Bereichen Medizin, Physik und Datenjournalismus gut ergänzt.
„Beim nächsten Mal würde ich noch klarer aufteilen, wer was recherchiert, damit es keine Dopplungen gibt“, antwortet Hummel auf die Frage nach den Lernerfahrungen aus dem Projekt. Außerdem lohne es sich, die eigene Recherche direkt für andere nutzbar aufzubereiten und wirklich nur jene Informationen zu teilen, die für die anderen Teammitglieder relevant sind.
Das Themengebiet der Forensik wollen die vier Journalisten weiter verfolgen. Derzeit wird im Speaker Identification Integrated Project (SIIP) der EU eine neue Sprechererkennungs-Software entwickelt – ein zehn Millionen Euro teures und aus Sicht des Datenschutzes nicht ganz unumstrittenes Projekt. „Wir haben vor, als Experten-Team zu diesem Thema weiter zusammen zu arbeiten“, sagt Hummel. Doch die Gruppe stürzt sich vor allem schon in das nächste Projekt: Die vier Journalisten haben ein weiteres Stipendium von Journalismfund.eu eingeworben, diesmal zur Flüchtlingsproblematik in Europa.
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Anna Behrend ist Diplomphysikerin und freie Wissenschaftsjournalistin in Hamburg. Ihre Themenschwerpunkte sind Naturwissenschaften (insbesondere Physik), Frauen in der Forschung, Digitale Gesellschaft und Datenjournalismus.
Auf Twitter folgen: @annabehrend
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