Ein Plädoyer für eine größere Beachtung des Militärischen in der Wissenschaft VON MARKUS BECKER

(photo credit: CC BY ND 2.0 / Bundeswehr / Schulze)

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Da war er wieder, der ungehaltene Leserbriefschreiber. Als Mathematiker und Pazifist finde er es schrecklich, „dass ein Artikel mit einem solchen Thema in der Wissenschaft landet“. Das Thema war in diesem Fall Iran und seine vollmundige Behauptungen über angeblich neue Waffen. Tötungsgerät habe mit Forschung nichts zu tun, meinte der Leser: Dergleichen gehöre ins Politikressort.

Mit Sätzen dieser Art wird man als Journalist, der regelmäßig über Militärtechnologie berichtet, häufig konfrontiert, auch von äußerst gebildeten Gesprächspartnern. Das macht die Sache umso erstaunlicher. Denn dass Waffen und Wissenschaft nichts miteinander zu tun haben, ist so offensichtlich falsch wie weltfremd. Und dass Journalisten sich kritisch mit militärischer Forschung auseinandersetzen, sollte eigentlich im Interesse gerade von Pazifisten liegen.

Die anregende und erfreulich sachliche Korrespondenz mit dem Leser war beendet, als ich ihn bat, mir die Berufe folgender Männer zu nennen: Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Edward Teller, Werner Heisenberg, Abdul Qadir Khan, Alfred Nobel, Kanatjan Alibekow alias Ken Alibek, Willy Messerschmitt, Wernher von Braun, Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf.

Die meisten Namen auf dieser Liste bedürfen vermutlich keiner weiteren Erläuterung – abgesehen vielleicht von Ken Alibek, der bis zu seinem Überlaufen einer der führenden sowjetischen Biowaffen-Entwickler war, und den Chemikern Lommel und Steinkopf, die Senfgas zur Waffe machten (das deshalb auch „Lost“ genannt wird, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben beider Namen).

Gemein ist diesen Männern, dass sie allesamt brillante Vertreter ihrer Fächer sind oder waren – und sich aus den unterschiedlichsten Motiven in den Dienst der Waffenentwicklung gestellt haben. Die Liste ließe sich beliebig erweitern um viele Tausend unbekannte Wissenschaftler und Ingenieure in aller Welt, die in diesem Moment an Waffen oder Dual-Use-Technologien forschen, die sowohl zu zivilen als auch zu kriegerischen Zwecken eingesetzt werden können. Ihnen gegenüber stehen zahlreiche Wissenschaftler, die gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ankämpfen – etwa bei Institutionen wie der Uno-Atombehörde IAEA, dem Institut für Transurane in Karlsruhe oder der Gemeinsamen Forschungsstelle der EU.

Über Waffentechnologie regelmäßig zu berichten ist möglich und geboten

Die Erfindung neuer Waffen hat die Entwicklung der Menschheit seit jeher entscheidend mitbestimmt, mindestens ebenso sehr wie politische Entscheidungen. Wahrscheinlich sogar in größerem Maße, da technologische Neuerungen den politisch-gesellschaftlichen Entscheidungs- und Kontrollprozessen prinzipiell vorauseilen.

Das gilt insbesondere für wirklich revolutionäre Erfindungen: Ein Politiker kann schwerlich die Erfindung von etwas nie Dagewesenem in Auftrag geben. Vielmehr sorgen Forscher für neue Möglichkeiten, die dann von den Entscheidungsträgern genutzt werden. Darauf, dass sie das tun, war bisher immer Verlass – insbesondere wenn es um neuartige Waffen ging, die schon aufgrund ihrer Neuartigkeit einen Vorteil gegenüber dem jeweils aktuellen Gegner versprechen.

Ein cleverer Steinzeitbewohner wird irgendwann darauf gekommen sein, einen Ast zu biegen und eine Sehne zwischen die Enden zu spannen – voilà, der Bogen war erfunden. Sein Chef wird dessen Nutzen erkannt und mehr davon verlangt haben. Schon hatte der Nachbarclan ein Problem. Ein paar Jahrtausende später verschmolzen Tüftler Kupfer und Zinn, das Resultat waren die ersten bronzenen Schwerter. In den Jahrhunderten danach ermöglichte die Metallurgie immer schärfere und härtere Klingen. Die Chemie führte zu Feuerwaffen, Biologen verwandelten Mikroben zu Waffen, Physiker ersannen die Atombombe.

Wohl kein Politiker wäre auf die Idee gekommen, dass man mit der Spaltung von Atomkernen eine Waffe bauen könnte, die den blutigsten Krieg der Geschichte auf einen Schlag – oder genauer: auf zwei Schläge – würde beenden können. Geschweige denn, dass diese Waffe eines Tages in der Lage sein würde, die gesamte Zivilisation zu sprengen. Das führt allerdings keinesfalls dazu, dass die Verbreitung von Atomwaffen global zurückgeht. Iran steht kurz vor dem Bau der Bombe, und nicht wenige Fachleute sind überzeugt, dass die Türkei dann folgen würde, vielleicht auch Saudi-Arabien und Ägypten. Und unter den bereits vorhandenen Nukleararsenalen wächst ausgerechnet das in Pakistan am schnellsten.

Das alles zeigt, dass die Staatengemeinschaft nur sehr bedingt in der Lage ist, die Verbreitung von Rüstungstechnologien effektiv zu kontrollieren oder gar zu unterbinden. Das ist einer der Gründe, warum es für das Wissenschaftsressort eines Massenmediums nicht nur möglich, sondern geradezu geboten ist, über Waffentechnologie zu berichten. Ein weiterer ist, dass die Forschung an neuen Waffen keinesfalls an Fahrt verloren hat.

Militärisches ist relevanter als vieles andere, das erschöpfend behandelt wird

Mancher mag geglaubt haben, dass mit der Erfindung von Interkontinental-Atomraketen das Ende der Fahnenstange erreicht wäre. Was könnte man mehr wollen als die Fähigkeit, ganze Städte auf einen Schlag auszuradieren? Doch da gibt es offenbar einiges. Nicht-autonome Roboter, allen voran fliegende Drohnen, spielen inzwischen Schlüsselrollen in der modernen Kriegführung. Laufende und fahrende Drohnen sind dabei, es ihnen gleichzutun. Zugleich werden militärische Roboter nicht nur immer größer und tödlicher, sondern auch kleiner, bis hin zu den Ausmaßen von Insekten. Hinzu kommen Cyberwaffen, etwa der von den USA und Israel entwickelte „Stuxnet“-Virus, der Irans Atomprogramm sabotieren sollte und prompt in die freie Wildbahn des Internets entkam.

Die Menschheit steht technologisch vermutlich an einer ähnlichen Schwelle wie in den vierziger Jahren, als die ersten Atomwaffen und die ersten Strahlflugzeuge zum Einsatz kamen. Die Fragestellungen sind ähnlich wie damals: In welche Richtung werden sich diese Technologien entwickeln? Wie werden sie die Gesellschaften der Welt und die internationale Politik verändern? Wie verhindert man, dass ihre Nutzung geradewegs in die Katastrophe führt?

Wissen zu Waffen aus den Massenmedien

Auf die ethischen, juristischen und politischen Debatten, die sich daraus ergeben, sind die westlichen Gesellschaften derzeit kaum vorbereitet. Falls die Öffentlichkeit aber überhaupt in der Lage sein soll, ihnen zu folgen und im Idealfall ein gewisses Maß an Kontrolle auszuüben, muss sie zunächst wissen, worum es überhaupt geht.

Dieses Wissen kann nur zustande kommen, wenn die Hintergründe und Zusammenhänge vermittelt, Entscheidungsprozesse in Wissenschaft und Wirtschaft hinterfragt werden und das Ergebnis öffentlich – also in den Medien – verhandelt wird. Und zwar nicht in Fachblättern oder obskuren Spezialisten-Blogs, sondern in den Massenmedien.

Merkwürdigerweise würde nicht nur jeder Journalist, sondern wohl auch jeder aufgeklärte Mensch das alles sofort unterschreiben, ginge es um das Gesundheitswesen, die Wirtschafts-, die Außen- oder die Innenpolitik. Selbst die tatsächlichen und vermeintlichen Gefahren von Computertechnik, dazumal ein Thema fürs Telekolleg, werden inzwischen mit Verve in den Massenmedien debattiert. Militärische und Dual-Use-Technologien aber sind dort merkwürdig unterbelichtet, obwohl sie eine weit größere Tragweite besitzen als vieles, was sonst in den großen Medien erschöpfend abgehandelt wird.

Statt billiger Waffenpornographie ist kontinuierliche Beobachtung notwendig

Ebenso seltsam ist manchmal die Art der Berichterstattung. Da gibt es zum einen den Typus des wuchtigen Feuilleton-Aufmachers, der bevorzugt dann erscheint, wenn mal wieder ein dystopischer Roman Bestsellerstatus erreicht hat (wie jüngst „Kill Decision“ von Daniel Suarez). Bei der Lektüre solcher Artikel beschleicht einen nicht selten das Gefühl, der Autor habe im Angesicht der Tötungstechnik und des daraus folgenden Debattenpotentials seinen persönlichen Shock-and-Awe-Moment erlebt. „Kinder, was es heute nicht alles gibt!“ würde als Überschrift oft passen. Anschließend widmet sich das Ressort wieder den Feuchtgebieten dieser Republik, bis der nächste aufrüttelnde Roman aus der Welt der Waffen die Bestsellerlisten stürmt.

Ein anderes Genre ist das meist wenig reflektierte, dafür aber umso bildgewaltigere Abfeiern der dicksten Bomben, schnellsten Kampfjets und geheimsten U-Boote. Es soll TV-Sender geben, die damit beachtliche Teile ihres Programms füllen. Böse Zungen nennen das Waffenporno.

Leider scheinen manche Kollegen, die Waffenporno mitunter zu Recht als solchen kritisieren, auch gleich jede Sachkenntnis auf diesem Gebiet als anrüchig zu empfinden. Auch das verwundert. Niemand käme etwa auf die Idee, einem Wirtschaftsjournalisten zu große Detailkenntnis in Finanzfragen oder gar einen Geldzählfetisch vorzuwerfen, auch wenn Finanzjongleure ganze Volkswirtschaften ruinieren und in ärmeren Ländern durchaus kriegsähnliche Verheerungen hinterlassen können.

Eine gewisse Sachkenntnis kann übrigens auch verhindern, dass man als Journalist vor dem Karren politischer Akteure landet. Zu den Evergreens auf dieser Bühne zählen die eingangs erwähnten blasbackigen Behauptungen iranischer Politiker und Militärs über ihre neuesten Waffen. Allzu oft posaunen Allrounder in Nachrichtenagenturen und Redaktionen solche Meldungen in die Welt hinaus, ehe sie sich einen Tag später als Märchen aus Tausendundeiner Nacht herausstellen.

Informationen findet man abseits ausgetretener Pfade

Wie aber sollte der Wissenschaftsjournalismus mit militärisch relevanter Forschung umgehen, die oft auch politisch und gesellschaftlich relevant wird? Denn die Verantwortung verschwindet nicht durch Nichtstun. Die Antwort kann nur lauten, weder das Thema noch seine Bedeutung aus den Augen zu verlieren. Das bedeutet zweierlei: zum einen, die Nachricht in ihren Kontext einzubetten und so ihre Bedeutung zu zeigen (dazu später mehr). Zum anderen, nicht nur zweimal im Jahr tätig zu werden (und dann den wuchtigen Feuilleton-Aufmacher zu produzieren).

Hält man ein Thema regelmäßig im eigenen Bewusstsein und dem des Lesers, werden Entwicklungen nachvollziehbar, und die Redaktion kann Fachwissen aufbauen und bewahren. Für die Berichterstattung über militärische oder sicherheitsrelevante Dual-Use-Forschung ist das womöglich noch wichtiger als in anderen Bereichen. Denn an Informationen ist hier oft wesentlich schwieriger heranzukommen als in der freien Forschung, die ihre Erkenntnisse von sich aus veröffentlicht.

Fachleute sitzen eher in Privatunternehmen und Behörden als in Universitäten und Forschungsinstituten. Sie sind Journalisten gegenüber meist noch reservierter als der berüchtigte deutsche Universitätsprofessor – speziell wenn sie den Eindruck bekommen, dass der Fragesteller am anderen Ende der Leitung keine Ahnung von der Materie hat.

Kompetene Szene von Militärbloggern in den USA

Leichter zugänglich sind zwar die Experten an den einschlägigen Think Tanks in den USA und Europa, die zu vielen Dingen kompetent Auskunft geben können. Was allerdings technologische Entwicklungen angeht, sitzen sie naturgemäß nur in der zweiten Reihe. Daneben gibt es eine kleine, aber ebenfalls sehr kompetente Szene von Militärbloggern, die in großer Mehrheit in den USA sitzen und oft einen militärisch-technischen Berufshintergrund haben. Welche enorme Bedeutung ihre Berichterstattung hat, wurde übrigens im September 2007 deutlich, als der damalige US-Präsident George W. Bush eine Handvoll Militärblogger zu einer Diskussion ins Weiße Haus einlud – ein Maß an Beachtung, um das mancher Regierungschef lange vergeblich kämpft. Zugleich zeigt die Episode, wie groß der Abstand zur entsprechenden Berichterstattung in Deutschland ist.

Dabei wäre sie in den allermeisten Fällen leicht zu rechtfertigen, wenn es gelingt, Nachrichten aus dem Bereich der Rüstungs- und Dual-Use-Forschung wie bereits erwähnt in ihren Kontext einzubetten – und ihnen so die Fallhöhe zu geben, die sie verdienen. Man muss dazu nicht in jedem zweiten Satz betonen, dass Waffen etwas Schreckliches sind und übrigens auch töten können. Das wird in dem Moment unnötig, in dem man von einer neuen Waffe nicht nur deshalb berichtet, weil sie besonders treffsicher, zerstörerisch oder billig herzustellen ist. Sondern weil sie dadurch Entscheidungsträgern neue Möglichkeiten in die Hand gibt – die, einmal genutzt, weitreichende Konsequenzen haben können.

Informationen dieser Art könnten übrigens selbst pazifistische Mathematiker spannend finden. Denn die Alternative wäre, von neuen Kriegstechnologien erst durch ihren Einsatz zu erfahren.

 


Becker_Markus CroppedDer Autor Markus Becker ist Ressortleiter Wissenschaft bei Spiegel Online.