Der Arsen Fall zeigt, dass bloggende Wissenschaftler aktuelle Forschungsergebnisse schneller und effektiver unter die Lupe nehmen können als die Massenmedien. VON LARS FISCHER

(Photo credit: CC BY SA 2.0: Rogers Cadenhead/flickr)

(Photo credit: CC BY SA 2.0: Rogers Cadenhead/flickr)

Unsere Vorstellungen von der Biologie selbst sollte die Entdeckung verändern, die ein Team um die Mikrobiologin Felisa Wolfe-Simon auf einer Pressekonferenz der NASA am 2. Dezember letzten Jahres präsentierte. Es kam anders. Kaum dass die Meldung in der Welt war, hatten Fachleute sie schon zerrupft – im Internet, vor allem in Blogs, ließen Wissenschaftler kein gutes Haar an der Veröffentlichung. Während in klassischen Medien noch von Außerirdischen die Rede war, fand die kritische Information längst anderswo statt, außerhalb der bewährten Kanäle von Presse und Wissenschaft. Sind die Strukturen der Wissenschaftsberichterstattung noch zeitgemäß?

Angefangen hat alles, als die NASA in einer dürren Notiz für den 2. Dezember 2010 eine Entdeckung ankündigte, die „Auswirkungen auf die Suche nach außerirdischem Leben“ haben werde. Die erste Folge war, dass in den Tagen vor dem Veröffentlichungstermin in Blogs und Foren wilde Vermutungen über die Entdeckung kursierten: ein zweiter, unabhängiger Stammbaum des Lebens auf der Erde? Mikroben auf dem Saturnmond Titan? So weit wucherten die Spekulationen, dass ernsthafte Vertreter des Faches schon den – ohnehin angeschlagenen – Ruf ihrer Forschungsrichtung beschädigt sahen.

Schon vor der eigentlichen Pressekonferenz zeigte sich so, dass die Weltraumbehörde und die beteiligten Wissenschaftler die Dynamik des Internet schlicht unterschätzt haben. Dass die Spekulationen unkontrolliert ins Kraut schossen, ignorierten sie ebenso geflissentlich wie die einsetzende Kritik an ihrem eigenen Beitrag dazu – ein Muster, das sich über Wochen fortsetzte. Während mit dem Ablauf des Embargos das öffentliche Ratespiel um die Meldung selbst beendet war, sahen sich die NASA und die Autoren mit einer Welle ebenso detaillierter wie böser Verrisse in Fachblogs konfrontiert.

Der Wert der Blogosphäre liegt in ihrer Vernetztheit

Den Anfang machte die Mikrobiologin Rosie Redfield von der University of British Columbia, die zwei Tage nach der Pressekonferenz in ihrem Blog RRResearch offenkundige methodische Mängel in der Veröffentlichung anprangerte. Weitere bloggende Wissenschaftler gesellten sich dazu, der Chemiker Alexander Bradley aus Harvard zum Beispiel hinterfragte die Stabilität der angeblich gefundenen Arsen-DNA. Ein paar Wochen später verwies Ashutosh Jogalekar von der University of Chapel Hill in seinem Blog „The Curious Wavefunction“ auf eine frische Publikation, die diesen Punkt nachdrücklich deutlich macht: Um siebzehn Größenordnungen sind Phosphatester stabiler als analoge arsenhaltige Moleküle.

Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass Wissenschaftsblogger so schnell und präzise kritisieren, wo ein Journalist zunächst nur melden kann. Einerseits natürlich ihre Expertise: Redfield und Bradley sind vom Fach und können die Arbeit ihrer Kollegen aus ihrer Forschungserfahrung direkt beurteilen. Andere Forscher brachten ihre Erfahrung mit der Forschung und – nicht zu unterschätzen – ihren Zugang zur Fachliteratur ein. Sie sind nicht an bestimmte Textformen gebunden, schreiben über Themen ihrer Wahl und vertreten ihre Meinung offensiv. All dies verschafft ihnen einen enormen Zeitvorsprung gegenüber Journalisten, die für eine Rezension auf dem gleichen Niveau tagelang recherchieren müssten.

Doch der eigentliche Mehrwert der Blogger liegt in ihrer Vernetzung: Die Beiträge zu Wolfe-Simons Arsen-Paper sind untereinander verlinkt, beziehen sich aufeinander und auf die Diskussion in den Kommentaren und greifen die Reaktionen der beteiligten Akteure direkt wieder auf, so zum Beispiel die Antwort der Erstautorin auf ihrer Webseite. In den Wissenschaftsblogs entwickelte sich so eine breite, andauernde Debatte mit beträchtlicher fachlicher Tiefe, die sich einer zentralen Moderation und Kontrolle entzog.

Der Umgang mit Kritik in Blogs ist ungewohnt

Auf diese Entwicklung reagierten Autoren und NASA zuerst gar nicht und dann patzig: Kritik in Massenmedien sei grundsätzlich nicht wissenschaftlich, und man werde sich nur mit solchen Argumenten auseinandersetzen, die in Fachzeitschriften veröffentlicht seien, erklärten unisono die Erstautorin Felisa Wolfe-Simon und der Pressesprecher der NASA. Dafür ernteten sie, nicht zuletzt angesichts der geballten Fachkompetenz hinter den Angriffen aus dem Netz, Hohn und Spott und weitere beißende Kritik. Die inhaltliche Erwiderung, zu der sich die Autoren erst zwei Wochen nach der Pressekonferenz durchringen konnten, zerpflückte Redfield wiederum in einem ausführlichen Beitrag. Über Fachzeitschriften geführt, hätte allein dieser Teil der Debatte Monate, wenn nicht Jahre gedauert.

Alle Beiträge des Dossiers "Wissenschaft(sjournalismus) im Web2.0" [Photo credit: CC BY SA 2.0: Markus Angermeier/ Wikipedia: bit.ly/1duKPsk)

Alle Beiträge des Dossiers „Wissenschaft(sjournalismus) im Web2.0“
[Photo credit: CC BY SA 2.0: Markus Angermeier/ Wikipedia: bit.ly/1duKPsk)

Der Fall illustriert, wie drastisch das Internet die Wissenschaft verändert, und dadurch auch die Mechanismen des klassischen Wissenschaftsjournalismus in Frage stellt: Auf nahezu allen großen Medienportalen und am nächsten Tag auch in vielen Zeitungen konnte man pünktlich zum Ablaufen des Embargos nur die Meldung selbst lesen, die andernorts bereits heftig kritisiert wurde. Dass Wissenschaftler Forschungsergebnisse auseinandernehmen, ist für sich genommen nicht ungewöhnlich. Neu ist, dass die Debatte über die Fachkreise hinaus in die Öffentlichkeit gelangte, und zwar in Echtzeit. Wo Forscher früher auf Konferenzen, in Messageboards oder an der Instituts-Kaffeemaschine informell diskutierten, konnte nun jeder mitlesen und mitmachen.

Dabei handelt es sich, um ein verbreitetes Missverständnis auszuräumen, nicht um eine wie auch immer geartete Gegenöffentlichkeit. Wogegen sollte sie sich auch stellen? Gegen die Wissenschaft, die dergleichen unter sich schon immer getan hat und nun ein neues Medium nutzt? Gegen die Journalisten? Der umfassendste Angriff auf die Veröffentlichung kam fünf Tage später eben von dem Journalisten Carl Zimmer, der als Reaktion auf Redfields Artikel eine Reihe von ausgewiesenen Fachleuten nach ihrer Meinung fragte – und die allesamt die Schlussfolgerungen der Wissenschaftsblogger bestätigten, bis hin zu der Feststellung, das Paper hätte so gar nicht veröffentlicht werden dürfen. Der korrekte Begriff für das, was in den Blogs passierte, ist Öffentlichkeit.

Diskussionen in Weblogs sind eine Herausforderung für den Wissenschaftsjournalismus

Das gefällt nicht jedem. Widerstand kam von vielen Wissenschaftlern, von denen nicht wenige die alten Strukturen mit ihrem gemächlichen und vor allem kontrollierten Publikationssystem bewahren möchten. Wie tief der Schock sitzt, demonstriert ein weiteres Scharmützel vier Monate später. In einem Review des Arsen-Papers ignorierten die Autoren die Online-Diskussion mit der Begründung, die Kommentare dort seien überwiegend anonym gewesen. Auf die akademischen Credentials der Online-Kritiker angesprochen, zogen sie sich auf die ebenfalls unwahre Behauptung zurück, nur redaktionell geprüfte Literatur sei überhaupt zitierfähig.

Auch Wissenschaftsjournalisten fordert die neue Situation heraus, aber die wichtigste Lehre aus der Affäre ist, dass ihre Arbeit keineswegs überflüssig wird, im Gegenteil. Ohne den interessierten Journalisten hätte die Kritik von Redfield und Kollegen niemals eine so breite Öffentlichkeit gefunden. Man darf nicht vergessen: Auch wenn die Inhalte von Wissenschaftsblogs öffentlich sind, ist ihre Leserschaft vergleichsweise klein. Nicht mehr als ein paar hundert Leute werden Professor Redfields Beiträge regelmäßig lesen. Trotzdem ging ihr Verriss der NASA-Meldung um die Welt, nachdem die Empfehlungsmaschine Internet die Debatte in die Redaktionen gespült hatte. Schon seit Jahren diskutieren und kritisieren Wissenschaftler Veröffentlichungen im Internet, doch nun haben Journalisten Zugang zu diesen Debatten.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Blogger dem Wissenschaftsjournalismus einige seiner bisherigen Alleinstellungsmerkmale nehmen. Verloren ist vor allem das, was Journalisten bisher als Öffentlichkeit verstanden haben: der exklusive Zugang zum Publikum über die Massenmedien. Auch was die Sachkenntnis angeht, hat die Blogosphäre als Ganzes einen uneinholbaren Vorsprung. Irgendwo gibt es immer einen, der etwas davon versteht, spätestens in den Kommentaren – auch dies ein Pfund, mit dem viele Blogs wuchern können. Warum es klassische Medienwebseiten nicht schaffen, ihre Kommentarsektionen auf einem halbwegs angemessenen Niveau zu halten, bleibt ein Rätsel.

Das Problem der Weblogs ist ihre Unübersichtlichkeit

Was aber die neue Form der Öffentlichkeit, die sich in Blogs und anderen Kanälen des Internets zusammenfindet, vor allem anderen auszeichnet, ist ihre Vielfalt. Nicht nur Wissenschaftler haben mitgeredet, über Wissenschaft bloggen auch Journalisten, Hobby-Enthusiasten und ausgemachte Spinner. Die große Bandbreite an Expertise und Perspektiven bietet ein enormes Potential für kritische Information über Wissenschaft, das sich in der Diskussion um die Arsen-Bakterien exemplarisch gezeigt hat. Etwas Vergleichbares können Journalisten nicht leisten.

Diese Vielfalt bedeutet aber auch, dass die neue Öffentlichkeit droht, sich selbst zu viel zu werden und sich im Verhau der nicht immer fundierten Einzelmeinungen zu verlieren. Die deutschsprachigen Wissenschaftsblogs bilden derzeit noch eine überschaubare Gruppe, die nach innen einen Mindeststandard an Qualität sicherstellt, doch schon der internationalen Forscherblogs sind so viele, dass selbst Aggregatoren und intensive Verlinkung keinen Überblick mehr gewähren. Hier sind Blogs nach wie vor auf Recherchekompetenz und Reichweite klassischer Medien angewiesen, auch das hat die Arsen-Affäre gezeigt.

Wo die exklusive Position als Mittler zwischen dem Wissenschaftsbetrieb und der Allgemeinheit wegfällt, schlüpfen Journalisten in die Rolle des Lotsen durch die Informationsflut. Das ist zum größten Teil noch Zukunftsmusik – die wenigsten Entdeckungen werden heute ein so breites Echo hervorrufen, wie es der NASA mit dem Reizwort „Außerirdische“ gelungen ist. Es wäre aber naiv zu glauben, dass derartige Debatten die Ausnahme bleiben. Gerade bei den spannendsten Entwicklungen in der Wissenschaft dürften Blog-Diskussionen nach dem Muster des Arsen-Papers – so viel kann man wohl vorhersagen, ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen – in Zukunft der Normalfall sein.


Fischer_Lars CroppedDer Autor Lars Fischer ist Wissenschaftsjournalist und Redakteur bei spektrum.de.