Der Zeit-Autor Ulrich Bahnsen schlägt in aller Unbescheidenheit eine Hypothese vor, die ein Jahrhunderträtsel lösen könnte: Wie entsteht Alzheimer? Ist das noch Journalismus? Ein Interview VON MARKUS LEHMKUHL

Hirnscan eines Alzheimer-Patienten (Photo credit: Public Domain: US National Institute on Aging, Alzheimer's Disease Education and Referral Center/Wikipedia)

Hirnscan eines Alzheimer-Patienten
(Photo credit: Public Domain: US National Institute on Aging, Alzheimer’s Disease Education and Referral Center/Wikipedia)

Herr Bahnsen, „Ist Alzheimer angeboren?“ ist der ungewöhnlichste journalistische Beitrag, den ich je gelesen habe. Können Sie das nachvollziehen?

Das ist kein journalistischer Beitrag!

Sondern?

Eigentlich ist es Wissenschaft. Zwar ist es vom Genre her sicher kein wissenschaftliches Paper, gewählt wird eine journalistische Form. Inhaltlich ist es aber eine Hypothese.

Wieso haben Sie diese Form gewählt?

Es war die einzige Möglichkeit, darüber zu schreiben. Es gibt ja keinen Wissenschaftler, der das so vertritt. Zwar gibt es sicherlich Leute, die in diese Richtung denken, aber in dieser Form ist das noch nicht formuliert worden. Und daher konnte ich auch nicht die übliche Form wählen, die da heißt: …haben amerikanische Wissenschaftler vorgeschlagen“ oder so. Diese Wissenschaftler gibt es nicht, meines Wissens.

Sie hätten ja Quellen mit Ihrer Idee konfrontieren können und darauf hoffen können, dass die sich diese Idee zu Eigen machen.

Ja, ich habe das auch versucht. Es hat sich aber kein Forscher dazu hinreißen lassen, diese Hypothese in der Form, wie ich sie formuliert habe, zu unterstützen. Die sind da sehr zurückhaltend gewesen.

Umso erstaunlicher finde ich, dass Sie die Chuzpe hatten, es trotzdem so aufzuschreiben.

Naja, man muss dazu sagen, dass dieses Stück eine lange Genese hatte, daran habe ich alles in allem etwa ein halbes Jahr lang gearbeitet. Inspiriert haben mich zwei Sachen: Zunächst ein Review von einem Wissenschaftler, den ich sehr bewundere, Christopher Walsh aus Harvard. Der wies darauf hin, dass es so etwas wie Mosaiken im Gehirn gibt und dass die mit einer Reihe von Krankheiten assoziiert sind. Das ist lange bekannt. Das andere war ein großes Stück, das ich vor zwei Jahren geschrieben habe: Da ging es um diese prionartigen A-Beta Peptide bei Alzheimer, die „Seed“, die sich im Gehirn infektiös ausbreiten.

Die Theorie in Kürze:

Sämtliche Alzheimer-Erkrankungen gehen ursächlich auf Mutationen in Genen wie APP, PS1 oder PS 2 zurück. Diese Mutationen betreffen entweder alle Körperzellen, in diesen Fällen ist Alzheimer erblich. Oder sie betreffen Anteile unterschiedlicher Körperzellen, gehen also auf Mosaiken zurück. Wie hoch dieser Anteil ist und welche Gewebetypen betroffen sind, hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt der Embryonalentwicklung es zu diesen Mutationen kommt. Je früher sich eine Mutation ereignet, desto mehr Gewebetypen sind betroffen. Je höher der Anteil mutierter Hirnzellen, desto früher zeigen sich erste Symptome von Alzheimer. Die Mutationen sind dafür verantwortlich, dass sich mehr infektiöse A-beta Proteine bilden (Prione), so genannte „Seed“. Ihre Toxizität rührt von einer „falschen“ Faltung her. Treffen sie auf normal gefaltete A-beta Moleküle, transformieren sich diese und werden ihrerseits toxisch. Eine Kettenreaktion kommt in Gang, die wie bei BSE, Creutzfeld-Jakob und Kuru mit der Zeit das Gehirn zerstört.

Diese Theorie von Ulrich Bahnsen beruht maßgeblich auf den Arbeiten folgender Forscher: Mathias Jucker, Larry Walker, John Collinge, Fred Gage und Christopher Walsh.

Das ist ganz neu und total faszinierend. Nur: Diese Seed erklären zwar den Krankheitsprozess, aber nicht, warum die Krankheit eigentlich entsteht. Da muss man ja fragen, woher kommen denn eigentliche diese Dinger. Entstehen die spontan? Und dann: Warum kriegen das nicht alle? Ich habe ein bisschen gebohrt und stieß bei der Literaturrecherche auf ein Paper von John Collinge, der ein Mosaik bei einer Alzheimer-Patientin beschrieben hat. Und als ich das gelesen hatte, da fielen die Puzzlesteine an ihren Platz. Ich habe meine Theorie dann einigen Experten hier in Deutschland erklärt, vor allem Mathias Jucker, den ich inzwischen ganz gut kenne. Wir haben das lange hin und her diskutiert und der sagte: Ja, kann natürlich sein. Dann kamen noch mehr Paper. Die habe ich ihm geschickt. Und am Ende hat er gesagt: Ja, das passt einfach. Dann habe ich es aufgeschrieben. Den Text habe ich dann Und dann habe ich den Text zwei Alzheimer-Forschern in Deutschland geschickt und die haben den Daumen gehoben.

Die haben den Daumen gehoben: Allerdings offensichtlich nicht so, dass die sich die Theorie zu Eigen gemacht hätten. Dazu hat es nicht gereicht?

Nein. Die haben mir gesagt: Die Hypothese ist gut, aber es ist ihre.

Die Alzheimer-Forschung ist ja hoch kompetitiv. Es gibt mittlerweile so viel Literatur, dass Sie kein einzelner Mensch mehr überblicken kann….

….. ich schon gar nicht…..

und da traut sich jetzt ein Journalist mit so einer Theorie ans Licht, in der er Material aus unterschiedlichen Forschungssträngen verarbeitet hat. Ist so eine These aus der Wissenschaft vielleicht deshalb nicht vorgetragen worden, weil die Menge an Literatur in den einzelnen hoch spezialisierten Forschungsfeldern so umfangreich ist, dass Wissenschaftler nicht mehr über die Ränder ihres eigenen Feldes hinausblicken?

Ja, das ist ja immer der Vorteil von Leuten, die nicht selbst in diesen Forschungsgebieten arbeiten. Man verengt ja seinen Horizont so ein bisschen auf das, was man gut macht. Und da muss man schon genug lesen. Da noch über den Tellerrand zu schauen, ist wirklich zunehmend schwierig für die Forscher. Und in diesem Fall erst Recht, weil eben zwei wesentliche Komponenten zusammenkommen, die nicht auf demselben Gebiet stattfinden. Das eine sind genomische Mosaiken, das ist Hardcore-Molekulargenetik, ganz neu. Da guckt ja kein Alzheimer-Forscher drauf. Umgekehrt gucken die Genomikexperten nicht gerade speziell auf Alzheimer, obwohl man sagen muss: Diese Leute werden am ehesten darauf gekommen sein. Denn wenn man Forschungsmittel will, schreibt man gern in den Antrag rein, dass man Hoffnung hat, damit was gegen Alzheimer zu machen. Und so ganz abwegig ist das ja auch nicht. Also bei Fred Gage, der diese genomischen Mosaiken im Gehirn aufgedeckt hat – ein Super-Mann – bin ich mir ziemlich sicher, dass er in diese Richtung guckt.

Sind Sie denn nach diesem Artikel schon eingeladen worden zu irgendwelchen Fachkonferenzen?

(lacht) Nein!

Ja wieso? So abwegig ist das ja nicht. Sie könnten ja mit einem Labor im Rücken ihre Hypothese testen.

Ja, allerdings. Ich könnte jetzt Experimente vorschlagen, um die Hypothese zu falsifizieren oder zu bestätigen. Es ist ja ganz offensichtlich, was man machen muss. Und ich vermute stark, dass da auch einige Leute bereits dran sind.

Sie vermuten das? Haben Sie denn Resonanz aus der Wissenschaft auf Ihren Artikel erhalten?

Ja, es gab einige positive Rückmeldungen aus den Reihen von Wissenschaftlern, die ich durch meine Arbeit kenne, die aber keine Alzheimer-Forscher sind. Aus der Alzheimer-Forschung  gab es kein offizielles Feedback.

Und wie war die Resonanz allgemein?

Von Medienkollegen gab es durchaus Kritik. Was mir vorgehalten wurde ist halt Grenzüberschreitung. Ist das Journalismus? Ist das ´ne Mischung aus Journalismus und Wissenschaft? Oder ist das einfach Wissenschaft? Und darf es dann in einer Publikumszeitschrift stattfinden oder müsste man es nicht bei Nature einreichen? Diese Fragen wurden gestellt, und, ja, darüber kann man diskutieren. Ich war mir dessen bewusst, aber ich habe mich dafür entschieden, das zu machen.

Diskutieren wir das doch mal: Wenn ich mich hineinzuversetzen versuche in einen ganz gewöhnlichen Blattmacher, dann frage ich mich, welches publizistische Kalkül sich hinter diesem Stück eigentlich verbirgt. Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll.

Man muss schon einräumen, dass sich dieses Stück eher an die Wissenschaft richtet, weniger an unsere normalen Leser. Wenn die ein bisschen Hintergrund-Wissen haben, wird das auch für die Laien vielleicht interessant sein. Nur was folgt daraus jetzt für den Leser? Gar nichts! Es ist ja nichts bewiesen. Es ist ein Vorschlag, er ist plausibel, aber nicht irgendwie substantiiert durch speziell darauf zugeschnittene Experimente. Insofern richtet es sich schon vornehmlich an die Wissenschaft, diese Experimente zu machen. Und insofern ist es schon eine Grenzüberschreitung. Ob man das in Publikumsmedien so machen kann, oder nicht machen sollte? – Ich weiß nicht.

Ich habe beim Lesen die Augenbrauen hoch gezogen und gedacht: Okay, ein mächtiger Aufschlag, mögliche Lösung eines Jahrhunderträtsels, super: Aber kann ich Ihnen glauben, Herr Bahnsen?

Glauben? Wer nichts weiß, muss glauben, heißt es ja immer. Aber die einzelnen Bausteine dieser Hypothese sind ja belegt. Aber ob die Zusammenschau, die ich da entworfen habe, ob man die glauben kann? Man soll sie gar nicht glauben! Sie müssen nur für sich entscheiden: Finde ich das plausibel, ist das widerspruchsfrei, gibt es vielleicht irgendetwas, was dadurch gar nicht erklärt wird? Und dann muss die Wissenschaft eben ihren Job machen und die entsprechenden Untersuchungen machen. Und dann wird man sehen.

Ja, aber wie kann ich wissen, ob Sie nicht etwas ausgelassen haben, das wichtig ist und nicht erklärt wird? Ich verfüge nicht über die nötige Expertise. Mir bleibt ja keine Wahl als Ihnen persönlich und Ihrem Medientitel, Der Zeit,  zu vertrauen. Allerdings gehören  wissenschaftliche Hypothesen – bislang mindestens – nicht zum Kanon der Aussagen in der Zeit, denen ich Zutrauen entgegenbringe. Das wäre anders, wäre Ihre These in einem Wissenschaftsjournal erschienen.

Akzeptiert! Der normale Zeit-Leser kann wahrscheinlich nicht auf Basis eigener Expertise über die These urteilen. Das ist ja auch das Problem. Dass man hier in einem Publikumsorgan etwas tut, was eigentlich in ein wissenschaftliches Journal gehört hätte. Unglücklicherweise werde ich von der Zeit bezahlt, nicht von Nature (lacht). Und ich fürchte, mein Arbeitgeber hätte wäre leicht irritiert gewesen, wenn ich sechs Monate Arbeit investiere, um es dann bei Nature einzureichen. Man kann mir sicher vorhalten: Bahnsen, das hättest du mal schön in eine wissenschaftliche Form bringen sollen und irgendwo bei einem Journal einreichen sollen. Wäre natürlich abgelehnt worden, vollkommen klar. Diese Idee hätte es nicht in die Öffentlichkeit geschafft.

 


Markus LehmkuhlDie Fragen stellte Markus Lehmkuhl. Markus Lehmkuhl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Wissenschaftskommunikation der Freien Universität Berlin. Er leitet die Redaktion von meta seit 2007.