Auch Wissenschaftler kämpfen um Aufmerksamkeit und bedienen sich dafür zuweilen unlauterer Mittel. Zwei Beispiele. VON MARKUS LEHMKUHL

Photo: CC BY SA 2.0: ErikBoss/flickr.com

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Es gibt eine Redensart, die sich einem Universallexikon zufolge schon im alten Testament finden lässt, genauer gesagt im ersten Buch Moses. Sie wird gebraucht, wenn man etwas Wichtiges nicht sieht, obwohl es für andere ganz offensichtlich ist : „mit Blindheit geschlagen sein“.

Die Forschung, die sich mit Wissenschaft in Massenmedien beschäftigt hat, war bislang von Blindheit geschlagen, und zwar bezogen auf einen Umstand, der für jeden Journalisten ganz offensichtlich ist: Übertreibungen, Verzerrungen, Fehlinterpretationen, kurz Inakkuratheiten jeder Art, sind nicht allein dem Journalismus anzulasten, weil schließlich der das Produkt veröffentlicht hat. Inakkuratheiten können auch der Mitteilungspraxis von Quellen zu verdanken sein.

Eine neuere Studie, die das veranschaulicht und die zu vitalen Diskussionen geführt hat, ist vergangenes Jahr im British Medical Journal erschienen (Sumner et al., 2014). Eine britische Gruppe von Medizinern hat das Ausmaß von Inakkuratheiten in 462 Pressemitteilungen ermittelt, die 2011 von 20 führenden britischen Universitäten verbreitet wurden. Es handelte sich sämtlich um Mitteilungen, die auf medizinischen Forschungsergebnissen basierten, die in einem peer reviewed Journal erschienen waren.

Die Akkuratheit der Pressemitteilungen wurde insbesondere in drei Merkmalen untersucht: Handlungsempfehlungen, kausale Zusammenhänge und Übertragungen von Tierexperimenten auf Menschen. Als eine Übertreibung wurden Botschaften dann gewertet, wenn sie sich nicht mit dem deckten, was im wissenschaftlichen Paper stand. Ergebnisse: 40 Prozent der Pressemitteilungen enthielten Handlungsempfehlungen, die durch die Studien nicht gedeckt waren. 33 Prozent enthielten kausale Statements, deren Basis bloß Korrelationen waren. Und 36 Prozent enthielten inakkurate Übertragungen von Tierexperimenten auf den Menschen.

Es gibt – wie eigentlich immer bei solchen Studien – eine ganze Reihe von Einschränkungen, die für die Interpretation der Ergebnisse wichtig sind. Eine wichtige Einschränkung ist die, dass nicht unterschieden wurde zwischen relevanten und eher irrelevanten Themen. Es wäre ja möglich, dass gerade die eher wichtigen Pressemitteilungen, etwa solche, die sich auf high impact Publikationen beziehen, weniger Inakkuratheiten enthalten als die eher unwichtigen.

Eine weitere betrifft die Entscheidung, die wissenschaftlichen Studien selbst als die entscheidende Referenz für das zu wählen, was akkurat ist. Dadurch bleiben etwa Übertreibungen, die in den Papern selbst enthalten sind, verdeckt, was die Autoren auch selbst anmerken. Eine Studie, die Inakkuratheiten der Studien selbst analysiert hat, ist im Jahre 2011 in PlosOne erschienen. Eine Gruppe um den französischen Neurowissenschaftler Francois Gonon kam am Beispiel von ADHS-Studien an Mäusen zu dem Ergebnis, dass 23 Prozent dieser 101 Studien die klinische Relevanz der Ergebnisse in den Conclusions übertrieben. Die Häufigkeit dieser Übertreibungen korrelierte positiv mit dem Impact der Journals, in denen sie publiziert waren (Gonon, Bezard, Boraud, & Ioannidis, 2011).

Es ist klar, dass diese beiden Beispiele nicht geeignet sind, um daraus weitreichende Schlüsse zu ziehen. Der gegenwärtige Kenntnisstand ist nicht geeignet, um das Ausmaß des Problems verallgemeinernd zu quantifizieren. Er ist nicht einmal geeignet, um das Problem einigermaßen seriös zu qualifizieren. Die beiden Beispiele sind trotzdem bedeutsam, weil sich hier harte Naturwissenschaftler gewahr werden, dass nicht allein der Journalismus Ursache allen Übels ist, sondern dass die eigene Mitteilungspraxis für die inakkurate Repräsentation von wissenschaftlichem Wissen bedeutsam ist. Diese Einsicht ist gemessen an dem, was insbesondere Naturwissenschaftler bisher über die Akkuratheit in Massenmedien veröffentlicht haben, ganz neu. Dies ist als der Grund anzunehmen, warum es beide Studien in high impact journals geschafft haben.

Quelle für inakkurate Darstellung sind nicht nur Journalisten, sondern auch die Wissenschaft selbst

Bis dato wurden Inakkuratheiten in Massenmedien in dutzenden so genannter Accuracy Studies immer dem Journalismus zugerechnet. Die Möglichkeit, dass die Fehler auf die Angaben der Quellen zurückgehen könnten, hat man nicht in Betracht gezogen.

Eine ganz bemerkenswerte Ausnahme ist eine uralte Accuracy Studie von Michael Haller von 1987, die 12 Jahre später in einem Buch wieder abgedruckt wurde (Haller, 1999). Der ermittelte, dass zwei Drittel der Faktenfehler, die zwei unabhängige Experten in der FAZ und der FR im Zusammenhang mit der Tschernobylberichterstattung identifizierten, auf falschen Angaben der zitierten Quellen zurückführbar waren. Die Quellen trugen mindestens eine Mitschuld an der Verbreitung falscher Informationen. Diese Einsicht blieb damals folgenlos. Ob das auch für die neueren Einsichten gilt, ist natürlich nicht sicher. Es spricht aber manches dafür, dass sich das Problembewusstsein insbesondere der Naturwissenschaft zu ändern beginnt und auch eigene Fehlleistungen Berücksichtigung finden.

 

Gonon, F., Bezard, E., Boraud, T., & Ioannidis, J. P. A. (2011). Misrepresentation of Neuroscience Data Might Give Rise to Misleading Conclusions in the Media: The Case of Attention Deficit Hyperactivity Disorder. Plos One, 6(1), e14618.

Haller, M. (1999). Wie wissenschaftlich ist Wissenschaftsjournalismus?: Zum Problem wissenschaftsbezogener Arbeitsmethoden im tagesaktuellen Journalismus. In M. Gottschlich & W. Langenbucher (Eds.), Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Textbuch zur Einführung. (pp. 202–217). Wien: Braumüller.

Sumner, P., Vivian-Griffiths, S., Boivin, J., Williams, A., Venetis, C. A., Davies, A., et al. (2014). The association between exaggeration in health related science news and academic press releases: retrospective observational study. BMJ, 349.


Markus LehmkuhlMarkus Lehmkuhl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Wissenschaftskommunikation der Freien Universität Berlin. Er leitet die Redaktion von meta seit 2007.